Extremismus

Meldestelle: 179 antisemitische Vorfälle seit Frühjahr 2022

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen hat in Kassel ihren ersten Jahresbericht vorgestellt. 179 antisemitische Vorfälle im Bundesland hat sie demnach 2022 dokumentiert - die meisten davon in Frankfurt und Kassel.

Eine Person hält ein Schild mit der Aufschrift «Antisemitismus Anklagen vor Gericht und überall». Foto: Christian Charisius/dpa/Archivbild
Eine Person hält ein Schild mit der Aufschrift «Antisemitismus Anklagen vor Gericht und überall».

Kassel (dpa/lhe) - 179 antisemitische Vorfälle hat die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen (RIAS Hessen) im vergangenen Jahr dokumentiert. «Das heißt, dass an jedem zweiten Tag antisemitische Vorfälle stattfanden, und es gibt immer noch ein Dunkelfeld», sagte Projektleiterin Susanne Urban bei der Vorstellung des ersten Jahresberichtes der Antisemitismus-Meldestelle am Donnerstag in Kassel. RIAS Hessen ist angebunden an das Demokratiezentrum Hessen an der Philipps-Universität Marburg. Die Meldestelle erfasst und dokumentiert seit Frühjahr 2022 antisemitische Vorfälle in Hessen und leitet Betroffene an Beratungsstellen weiter.

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Antisemitismus sei auch in Hessen Teil einer gesellschaftlichen Normalität, die sich nicht nur auf eine gesellschaftliche Gruppe zurückführen lasse, sagte Marco Siegmund von Bundesverband RIAS mit Sitz in Berlin. Dies werde bereits nach einem Jahr operativer Tätigkeit von RIAS Hessen deutlich. Dabei spiegelten die erfassten antisemitischen Vorfälle bisher nur einen Teil des alltäglichen und reellen Antisemitismus wider. Insgesamt gehe die Meldestelle von einer deutlich höheren Dunkelziffer antisemitischer Vorfälle im Bundesland aus.

Die meisten Vorgänge (62) wurden laut Urban in Frankfurt dokumentiert, gefolgt von Kassel mit 52 Fällen. Von ihnen wurden 38 im Rahmen der documenta fifteen erfasst. Bei der Weltkunstausstellung im Sommer 2022 richteten sich Antisemitismusvorwürfe unter anderem gegen das indonesische Kuratoren-Kollektiv Ruangrupa und diverse Kunstwerke. «In Kassel entstand durch die Werke und die Debatten auf der documenta fifteen eine Gelegenheitsstruktur für Antisemitismus», erklärte die Historikerin.

Neben einem Fall von extremer Gewalt kam es Urban zufolge unter anderem in drei Fällen zu Angriffen und in zehn Fällen zu einer Bedrohung. Zudem seien zwölf gezielte Sachbeschädigungen erfasst worden. Dominant (71 Fälle) war ihr zufolge das sogenannte antisemitische Othering. «Damit werden Jüdinnen und Juden durch Handlungen, Worte und Bilder als fremd oder nicht zugehörig klassifiziert.» Im Othering mischten sich verschiedene abwertende Stereotype. Beispielsweise werde «Du Jude» als Beleidigung und Abwertung von Menschen verwendet, besonders in Schulen oder im Sportumfeld.

Auch der israelbezogene und der Post-Shoah-Antisemitismus seien weit verbreitet gewesen. Letzterer bezeichnet eine Form, die sich gegen eine kritische Erinnerung an die NS-Verbrechen richtet - oder diese Erinnerung sogar angreift. Dazu gehöre die Verharmlosung oder Leugnung des Holocaust, so Urban.

Hauptorte antisemitischer Vorfälle seien die Straße mit 34 Vorfällen und Bildungseinrichtungen mit 29 Vorfällen. Bei den klar zu benennenden Hintergründen lägen antiisraelischer Aktivismus (24 Fälle) sowie verschwörungsideologische Motive (20) vor rechtsextremen Zuordnungen (15). «Bei 103 Fällen konnte der politisch-weltanschauliche Hintergrund nicht benannt werden», so Urban.

«Judenhass beginnt nicht mit Straftaten, sondern mit Hass und Hetze und diese finden dort ihren Nährboden, wo Vorurteile, Unwissenheit und Antisemitische Stereotype zusammenfinden und von interessierten Dritten zu einem gesellschaftlichen Gift verschmolzen werden», sagte der hessische Antisemitismusbeauftragte Uwe Becker laut Mitteilung. Dies geschehe leider in zu vielen Köpfen, wie die bei der Stelle gemeldete Zahl von 179 Vorfällen für 2022 zeige.

«Die Arbeit von RIAS Hessen zeigt, wie unterschiedlich sich Antisemitismus in unserer Gesellschaft zeigt und gleichzeitig wissen wir, dass die wahre Anzahl judenfeindlicher Vorfälle auch hier noch darüber liegt.» Er könne Menschen, denen Antisemitismus widerfährt oder die Fälle von Judenhass mitbekommen, nur dazu ermutigen, diese auf jeden Fall zu melden, «denn dies hilft, wirkungsvoll an dessen Bekämpfung arbeiten zu können.»

Laut dem hessischen Innenministerium wurden im vergangenen Jahr 107 antisemitische Straftaten erfasst. Dazu zählten zwei Gewaltdelikte, 71 Fälle von Volksverhetzung und sieben Beleidigungen. 15 Mal seien verfassungswidrige Kennzeichen verwendet worden. 92 der Straftaten wurden laut Ministerium dem Bereich der politisch rechts motivierten Kriminalität zugeordnet. Hinter sieben Fällen steht demnach eine ausländische Ideologie. Acht Straftaten seien keiner politischen oder religiösen Kategorie zuzuordnen.