Weinheim

In einer historischen OEG literarisch durch die Nacht

Fünf Autorinnen und ein Autor geben zwischen Weinheim und Heidelberg Kostproben aus ihren Büchern. Die Lesungen sind Teil des Weinheimer Literaturfestivals.

Vor der Abfahrt der Lesung in der historischen OEG: Die Autorinnen Ortrud Toker, Angela Buddecke und Silke Ziegler (von links) mit Andreas Haller, der für den Verein Literaturfestival Weinheim die Veranstaltung moderierte. Foto: Marco Schilling
Vor der Abfahrt der Lesung in der historischen OEG: Die Autorinnen Ortrud Toker, Angela Buddecke und Silke Ziegler (von links) mit Andreas Haller, der für den Verein Literaturfestival Weinheim die Veranstaltung moderierte.

Fünf Minuten vor der geplanten Abfahrt öffnet „Sixty“ ihre Türen. So heißt die historische OEG, die schon 1963 zwischen Weinheim und Heidelberg pendelte. Am Donnerstagabend wird sie für 50 Literaturfreunde zum rollenden Lesesaal. Peter Amsler, der Verleger des Erzählverlags aus Berlin, schleppt noch rasch eine Kiste mit Büchern seiner Autorin Angela Buddecke durch den Waggon. Draußen postiert sich die Schriftstellerin zusammen mit Silke Ziegler und Ortrud Toker sowie Moderator Andreas Haller noch rasch zum Gruppenbild. Dann schließen die Türen. Es heißt: Achtung an Gleis 3 – Abfahrt!

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Im Inneren der "Sixty" warten schon die Lesungsgäste. Foto: Marco Schilling
Im Inneren der "Sixty" warten schon die Lesungsgäste.

Abendlicht und harte Sitze

Das letzte Abendlicht fällt auf die Zuhörer, die auf den harten Holzsitzen aufmerksam der Lokalmatadorin Silke Ziegler zuhören. Als sie in einer Passage aus ihrem Roman „Im Zauber der Stille“ nach Montpellier reist und ihre Hauptfigur Fleur in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden möchte, begleitet draußen, wie bestellt, auf der B 3 für einen Moment ein Polizeiauto die Bahn zwischen Weinheim und Lützelsachsen.

Als die Autorin aus Weinheim ihr Headset an Ortrud Toker übergibt, ist es draußen schon rabenschwarze Nacht. Die Autorin aus Frankfurt entführt in eine Zeit, in der das Reisen noch ein anderes Tempo hatte als heutzutage. Mit etwas Fantasie sitzen die Zuhörer für ein halbes Stündchen mit Werner von Siemens in einer Postkutsche, die 1844 von Paris nach Berlin unterwegs ist. Toker beschäftigt sich in ihrem Buch „Vom Ende der Langsamkeit“ mit einer Epoche, in der sich die Vorstellung von Raum und Zeit rasant veränderte. Währenddessen steuert OEG-Fahrer Edin Novalic die Straßenbahn mit Tempo 60 Heidelberg entgegen.

Der Sonderzug fährt zwischen Weinheim und Heidelberg. Foto: Marco Schilling
Der Sonderzug fährt zwischen Weinheim und Heidelberg.

Doch ehe die historische Bahn ihren „Rastplatz“ im Betriebshof erreicht, lässt Angela Buddecke die literarische Gesellschaft aufhorchen. Beim Lesen aus „Niemand liebt mein Leben so wie ich“, ihrem Erstlingswerk, zaubert die glänzende Rezitatorin dank ihres hervorragenden, ehrlichen, unprätentiösen Schreibstils Bilder in die Nacht: Sie schildert ergreifend, wie sich in einem einzigen Moment das Leben verändern kann.

Pause zum Signieren

Ihr Verleger hat nicht umsonst zu Beginn der Fahrt noch die Bücherkiste transportiert. Bei der Pause im Betriebshof signiert die Autorin im Stehen mehrere Bücher, die begeisterte Gäste der Literaturfahrt gerade erworben haben. Silke Ziegler hat diesbezüglich klug vorgesorgt und sich von ihrem Ehemann einen Klapptisch nach Heidelberg bringen lassen. Auch sie signiert gleich neben einem Gleis frisch ausgepackte Exemplare ihres Kriminalromans.

Die Stadt, in der laut einem bekannten Lied so mancher sein Herz verloren hat, liegt im Dunkeln. Susanne Ochs aber zeigt Heidelberg in ihrem Bildband im Sonnenlicht und aus ganz besonderem Blickwinkel. Sie fotografiert schöne Orte der Stadt in Kombination mit Miniatur-Stillleben und schmückt ihre Fotografien mit literarischem Beiwerk. Auf der Rückfahrt geht ein Kalender mit ihren Bildern durch den Waggon, während Mitarbeiterinnen der rnv für Getränkenachschub sorgen.

Ein Mann für die Wahrheit

Am Bismarckplatz schauen zwei junge Männer verdutzt in die beleuchtete Literatenbahn, während sie im Plastikbeutel ihr Fastfood-Abendessen mit sich führen. In der Bahn fliegt Maria Hoffmann-Dartevelle „Über den Ozean“ nach Argentinien, im Gepäck die Asche ihres verstorbenen Mannes, ehe nach fünf Autorinnen mit Rainer Otte ein männlicher Kollege den Lesereigen mit einer seiner historisch recherchierten Novellen abschließt. Leider kommt seine Geschichte aus „Wie viel Wahrheit darf es denn sein?“, die auf der Handelsroute von Florenz nach Brügge spielt, akustisch nicht bis in die letzten Ecken der Bahn.

Anscheinend hat das wandernde Headset beim sechsten Träger innerhalb eines Abends an Energie verloren. Auch die Reisenden in Sachen Literatur wirken auf den harten Sitzen nach gut drei Stunden etwas ermüdet. Gefallen hat es gleichwohl allen, wie der kräftige Schlussapplaus zeigt. Schließlich war man zwischen Weinheim und Heidelberg auch in Montpellier, Paris, Florenz oder Buenos Aires.