Weinheim

Von der Arrestzelle bis zum Mausoleum: Ungewöhnliche Lesungen beim Literaturfestival Weinheim:

n der malerischen Stadt Weinheim wird Literatur auf eine ganz neue Art und Weise erlebt. Der Vorsitzende des Vereins Literaturfestival Weinheim, Wolfgang Orians, hat außergewöhnliche Leseorte versprochen und hält Wort. Von einem Polizeirevier bis hin zu einer Brauerei, die Stadt wird zur Bühne für Autoren und Literaturbegeisterte. Ein besonderes Highlight: Die Lady of Crime, Ingrid Noll.

Foto: Katrin Oeldorf

Außergewöhnliche Leseorte hat Wolfgang Orians, Vorsitzender des Vereins Literaturfestival Weinheim, versprochen. Am Freitagabend empfängt er die zahlreichen Gäste der ausverkauften Lesung im Polizeirevier am Bahnhof mit einem breiten Lächeln. Spannung und gute Unterhaltung sind hier mit Ingrid Noll, der Lady of Crime, garantiert. Bei einem Streifzug durch die Weinheimer Literaturnacht mischen sich an vier von sechs Orten die Genres und lesen Autorinnen und Autoren bei ganz unterschiedlichen Rahmenbedingungen.

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„Dürfen wir fragen, was hier los ist?“, fragen zwei junge Männer beim Anblick der langen Menschenschlange vor dem Weinheimer Polizeirevier. „Die wollen hier alle gemeinschaftlich einsitzen“, scherzt ein Mann und erklärt anschließend, dass hier beim Literaturfestival Krimiautoren lesen. Währenddessen füllt sich oben der Veranstaltungsraum.

Wo sich sonst Polizisten zu Besprechungen versammeln, sitzt Weinheims Ehrenbürgerin Ingrid Noll jetzt in der ersten Reihe. Wenn die Ehrenkriminalhauptkommissarin bei der Polizei liest, lässt es sich Andreas Stenger nicht nehmen, aus Stuttgart anzureisen.

Der Präsident des Landeskriminalamtes bezeichnet sich selbst als Edelfan von Noll. Zusammen mit Siegfried Kollmar, dem Leiter des Polizeipräsidiums Mannheim, überreicht er der Literatin vorab Geschenke. Das originelle LKA-Saunatuch sorgt für besondere Heiterkeit im Raum, und Kollmar setzt noch einen drauf, als er angesichts der zu erwartenden Kostproben aus dem Roman „Tea Time“ feststellt: „Ich bin froh, dass ich heute Abend hier keinen Tee serviert bekomme.“

Ehe Lilo Beil und Ingo Cesaro, die beiden anderen Autoren des Abends, Auszüge aus „Lebende Schatten“ und „Eine schöne Leich’“ im proppenvollen Veranstaltungsraum bieten, erhalten die Besucher noch Gelegenheit, einen Blick in die Arrestzelle im Keller zu werfen, was eine kleine Völkerwanderung durch zwei Stockwerke des Hauses zur Folge hat.

„Immer geradeaus und durch den Vorhang“, weist die Bedienung in der Woinemer Hausbrauerei freundlich den Weg zu einem anderen Leseort. Während bei Speis’ und Trank im Gastbereich munter geplaudert und gelacht wird, versucht Tom Vuk bei seiner Lesung aus „Josip“, einer Gastarbeitergeschichte mit kulinarischen Seitenästen aus Speck und Apfelstrudel, gegen die Stimmen vor dem Vorhang anzukämpfen. Dass das durchaus möglich ist, beweist später Maria Herrlich. Die Autorin und Grafikerin aus Berlin erweist sich am Mikrofon als glänzende Unterhalterin. Sie erzählt von ihrem ersten Biss in eine Quitte, amüsiert anschließend mit Alliterationen über die gelbe Frucht oder über Saltimbocca. Roland Kern, der in der Brauerei durchs Programm führt, ist begeistert. Der Pressesprecher der Stadt Weinheim schwärmt am Freitagabend von der Atmosphäre, die das Lesefestival in die Stadt bringe. „Wir hatten hier heute über 30 Autoren in der Stadt“, sagt er und fügt hinzu: „Es spricht einiges dafür, dass sich diese Literaturtage in Weinheim etablieren werden.“

Während später Volker Mehl einen Ausflug in die ayurvedische Küche unternimmt, lesen Tina Schlegel, Silke Ziegler und Poetin Christiane Hedtke im Trauzimmer über Liebe und Leidenschaft. Wo sich gewöhnlich Paare vor Standesbeamten im Rathaus das Ja-Wort geben, lauschen am Freitagabend Literaturfreunde zauberhaften Geschichten und Gedichten. Die 25 Eintrittskarten für die Lesung im höchstgelegenen Leseraum des Literaturfestivals waren schnell vergriffen. Bei romantischen Passagen aus Schlegels „Vier Herzen am See“ und Zieglers „Liebe unter Mandelblüten“ sowie gefühlvollen Gedichten aus Hedtkes Gedichtband „Für das Glück spioniert“ brennen die fünf Kerzen auf dem Hochzeitstisch langsam nieder, schauen die Zuhörer ab und zu hoch zur ornamentbestückten Decke.

Von der Pracht, den Mosaiken und Bemalungen im Jugendstil im Mausoleum sind Literaturfreunde begeistert, die sich für Fantasy-Geschichten interessieren. Schon der Weg durch den dunklen Schlosspark zum denkmalgeschützten, von der Adelsfamilie Berckheim zwischen 1908 und 1913 erbauten Gebäude, ist spannend. Erst um 21 Uhr startet der Literatenreigen im mystischen Ambiente. Sechs Autoren werden abwechselnd auf einem roten Plastikstuhl Platz nehmen, von Feen, seltsamen Geschehnissen, von einer Zeitmaschine oder einem mysteriösen blauen Kristall erzählen und eine besondere Herausforderung meistern müssen. Der Hall, den unter anderem die mit Marmor kostbar ausgekleideten Wände erzeugen, erfordert einen nicht allzu lauten Vortrag. Wie man sprechen muss, um verständlich zu bleiben, zeigt gleich zu Beginn Manuela Maer. In ihrem Buch „Ilya Duvent – Der Sturm in Dir“ knistert es auf der Suche nach einem gefährlichen Dämon im Dämmerlicht des Mausoleums, und ihr Ehemann Stefan steuert per Smartphone auf Passagen abgestimmte, leise Hintergrundmusik bei. Literatur bis zur Geisterstunde und dann auch noch direkt über einer geschlossenen Familiengruft. Weinheim kann wahrlich besondere Orte für Lesungen bieten.