Weinheimer Duo entführt mit rührender Start-up-Idee in virtuelle Welten
Mithilfe von VR-Brillen führen sie beeinträchtigte Menschen in digitale Welten - von Abenteuern bis zu entspannten Liegestuhlmomenten.
Eine Auszeit vom Alltag nehmen: Das klappt am ehesten mit einem Tapetenwechsel. Je größer der Kontrast zum gewöhnlichen Umfeld und Tagesablauf, desto besser. Am allerbesten ein Abenteuerurlaub oder ein entspannter Aufenthalt am Strand. Aber was ist mit Menschen, denen das aufgrund ihres Alters oder ihrer körperlichen und geistigen Einschränkungen gar nicht möglich ist?
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Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogenen Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzbestimmungen .Diese Frage stellten sich auch Susanne Erceg-Seston und Timo Friedrich, die beiden Gründer des Weinheimer Start-ups „SinnGlückLeben“. Die Antwort, die sie gefunden haben, lautet: Virtual Reality (VR). Mittels VR-Brille entführen sie in digitale Welten. In diesen erklimmen Menschen, die an den Rollstuhl gebunden sind, die höchsten Berge. Senioren, die im Heim leben, besuchen noch einmal ihre Lieblingsmetropole. Und Bewohner von Behinderteneinrichtungen gehen zwischen Mittagessen und Kaffeepause mal eben auf Schnitzeljagd am Karibikstrand.
So soll sich das Ganze rechnen
Das Geschäftsmodell des Start-ups, das 2022 gegründet wurde: Die Unternehmer wollen VR-Brillen samt behindertengerechter Apps an Einrichtungen vermieten. Neben Hard- und Software steht „SinnGlückLeben“ dann noch für den Service zur Verfügung. Wenn die Geräte beispielsweise eingerichtet werden müssen. Oder Betreuer eine Einführung für die Handhabung brauchen. Im Start-up sind Erceg-Seston und Friedrich gleichberechtigte Co-Geschäftsführer. Während der Fokus der Heilerziehungspflegerin mehr auf dem pflegefachlichen Aspekt liegt, ist Friedrich der Mann fürs Technische. Entwickelt werden die App-Ideen jedoch von externen Dienstleistern, allen voran Unternehmen aus der Spieleentwicklung.
Inklusion sei Susanne Erceg-Seston schon immer ein wichtiges Anliegen gewesen. Bereits seit 25 Jahren arbeitet sie in Einrichtungen der Heilerziehungspflege. Die zündende Idee, wie Teilhabe auf ein ganz anderes Niveau gehoben werden könnte, kam ihr aber daheim auf dem Sofa. Es herrschte noch die Corona-Pandemie. Aus Jux und Tollerei, vor allem aber aus Neugier, lieh sich die 43-Jährige eine VR-Brille aus: „Als ich die VR-Brille das erste Mal aufhatte, wusste ich: Das ist ein Gamechanger (bahnbrechende Änderung; Anm. d. Red.).“ Auch Timo Friedrich, ursprünglich gelernter Altenpfleger, ist in der Heilerziehung tätig. Er weiß deshalb ebenfalls: „Der Tagesablauf von Menschen in Einrichtungen und Heimen ist ziemlich straff durchgetaktet. Da mal wirklich – und einfach – herauszukommen, ist schon wichtig.“
Virtual Reality (VR) ist eine Technologie, die es Menschen ermöglicht, in eine computererzeugte 3D-Welt einzutauchen und in dieser Welt zu interagieren.
VR-Brillen sind das zentrale Gerät, das diese immersive Erfahrung ermöglicht.
VR-Brillen bestehen aus zwei Bildschirmen, einem für jedes Auge, die 3D-Bilder erzeugen. Sensoren in der Brille erfassen die Bewegungen des Kopfes und passen das Bild entsprechend an, um eine nahtlose 360-Grad-Ansicht zu bieten.
Eingebaute Lautsprecher oder Kopfhörer bieten zudem 3D-Audio.
Die meisten VR-Brillen müssen mit einem leistungsstarken Computer oder einer Spielekonsole verbunden sein, um die erforderliche Rechenleistung bereitzustellen. Es gibt jedoch auch eigenständige VR-Brillen, die keinen externen Computer benötigen.
Markt hat es nicht geboten
Als Erceg-Seston ihm bei einem Aufeinandertreffen im Pilgerhaus also ihre Idee vorstellte, war der 31-Jährige sofort Feuer und Flamme. Denn für die speziellen Bedürfnisse der Anwender bedarf es auch spezieller Applikationen – Stichwort „Barrierefreiheit“. Die VR-Apps, die sich bereits auf dem Markt befinden, sind in der Handhabung oftmals zu schwer für die Klientel, die Erceg-Seston und Friedrich im Blick haben. Leichtere Applikationen, so erzählt die 43-Jährige, sind fast ausschließlich für Kinder konzipiert: „In denen springen aber beispielsweise rosa Einhörner herum.“ Dem Gründerduo war es wichtig, dass die Anwendungen für verschiedene Altersgruppen und in vereinfachter Sprache umgesetzt werden. Auch die Steuerung mit den beiden Controller Grips muss simpler sein.
Aber wie sieht so eine alters- und behindertengerechte App schlussendlich aus? Das Start-up hat derzeit mehrere Anwendungen in der Entwicklung. Bei einer findet sich der Nutzer plötzlich an einem ihm unbekannten Strand wieder. Schnell wird klar, dass es sich um eine einsame Insel handelt. In einer Art digitalen Schnitzeljagd muss der Spieler Kartenstücke zusammensuchen, die ihm Hinweise und Orientierung geben. „Das Spiel geht erst einmal ganz simpel los. Im ersten Abschnitt geht es vorwiegend darum, sich an die Steuerung zu gewöhnen“, erklärt Friedrich. So sei es auch möglich, die Anwendung mit nur einem statt zwei der Controller Grips zu spielen. Ein Betreuer kann sich mit dem Tablet oder Smartphone zuschalten.
Dabei mit dem Smartphone
Auf dem Endgerät wird gespiegelt, was der Spieler durch die Brille sieht. So ist eine zusätzliche Hilfestellung möglich. Ganz allmählich wird das Spiel etwas schwieriger. „Im zweiten Level kommt dann hinzu, dass der Spieler Gegenstände greifen und verschieben muss“, so der 31-Jährige. Natürlich gibt es Menschen in der Zielgruppe, für die selbst einfache motorische Anforderungen eine Überforderung darstellen würden. Aber auch hier haben die beiden Gründer sich etwas ausgedacht. Susanne Erceg-Seston berichtet von der Geschichtenerzähler-App. Bei dieser kann der Anwender sich berieseln lassen. Der Name ist Programm: Nur, dass die erzählte Geschichte und ihre Figuren durch die VR-Brille vor den Augen des Nutzers lebendig wird. Noch gediegener wird es bei den Entspannungs-Apps. Bei der Anwendung findet man sich etwa am Zürichersee im Liegestuhl wieder und kann die Aussicht und die Ruhe genießen.
Gerade für Menschen im Heim bietet die Technologie die Möglichkeit, Orte zu erkunden, die die Bewohner physisch nicht mehr aufsuchen können. Susanne Erceg-Seston habe hier mit einer älteren Heimbewohnerin ein Schlüsselerlebnis gehabt: Über die VR-Brille konnte sie noch einmal die Bundeshauptstadt besuchen. Längst vergessen geglaubte Erinnerungen wurden wach. Im Kampf gegen das Vergessen keine Selbstverständlichkeit. Spätestens seit diesem Zeitpunkt war klar, dass Städtetouren ein weiteres digitales Standbein werden.
Motion Sickness - kurz erklärt
- Was ist VR Motion Sickness?
- VR Motion Sickness ist eine unangenehme Empfindung, die auftreten kann, wenn die visuellen und vestibulären (Gleichgewichts-) Signale in der virtuellen Realität nicht übereinstimmen.
- Symptome:
- Typische Symptome sind Übelkeit, Schwindel, Kopfschmerzen und ein allgemeines Unwohlsein während oder nach der Verwendung von VR-Brillen.
- Ursachen:
- VR Motion Sickness tritt oft aufgrund von Latenzproblemen, niedriger Bildwiederholrate oder ungenauer Bewegungsnachverfolgung in der virtuellen Umgebung auf.
- Anwendungen:
- Dieses Phänomen kann in verschiedenen VR-Anwendungen auftreten, wie Spielen, Simulationen oder virtuellen Rundgängen.
- Prävention:
- Um VR Motion Sickness zu verhindern, sollten VR-Nutzer regelmäßige Pausen einlegen, die Grafikeinstellungen optimieren und sich allmählich an immersive VR-Erlebnisse gewöhnen.
- Wer ist betroffen?
- Menschen reagieren unterschiedlich auf VR Motion Sickness, aber sie betrifft oft Neulinge in der VR-Welt oder Personen mit empfindlichen Gleichgewichtssystemen.
- Behandlung:
- Bei auftretenden Symptomen hilft es, die VR-Brille abzunehmen, sich auszuruhen und wieder in die reale Welt zurückzukehren, bis das Unwohlsein nachlässt.
Was ist mit der Motion Sickness?
Doch die Virtuelle Realität ist nicht jedermanns Sache: Das Eintauchen in diese Welten kann unerwünschte Nebenwirkungen haben. Auch völlig gesunde Menschen klagen oft über die sogenannte „Motion Sickness“, die seit dem Markt-Aufstieg der VR-Technologie auch oft als VR-Übelkeit oder -Krankheit bezeichnet wird. Symptomatisch verhält es sich hier ähnlich wie bei der Seekrankheit. Seit die Oculus Rift (die erste für den Massenmarkt taugliche VR-Brille) vor zehn Jahren erschien, haben sich Unternehmen große Mühe gegeben, die unerwünschten Nebeneffekte durch Technologien auszumerzen oder zumindest abzuschwächen. Ganz aus der Welt schaffen konnten die Entwickler sie nicht. Die Annahme ist, dass die VR-Krankheit durch die unterschiedliche Wahrnehmung zwischen dem, was das Gehirn im Spiel und der Körper in der Wirklichkeit erlebt, entsteht. So soll die Motion Sickness bei Anwendungen, die auf künstliche Bewegungen und/oder Drehungen verzichten, weniger häufig entstehen.
Kooperation mit Stiftung Pfennigparade
Inwiefern berücksichtigt „SinnGlückLeben“ dieses Thema also bei ihrer doch sensiblen Zielklientel? Grundsätzlich verweist Timo Friedrich darauf, dass die Motion Sickness eher bei Spielen mit „schnellen, ruckartigen“ Bewegungen stattfindet: „Ein Klassiker ist hier die Achterbahnfahrt – solche Simulationen sind für uns ja völlig ausgeschlossen.“ Darüber hinaus, so Erceg-Seston, kooperiere „SinnGlückLeben“ mit der Münchner Stiftung Pfennigparade. Diese unterstützt Firmen bei der Umsetzung digitaler Angebote für eingeschränkte Menschen. Durch die Stiftung hat das Start-up die Möglichkeit, seine Applikationen in Einrichtungen für behinderte Menschen testen zu lassen.
Erfahrungswerte haben die beiden Gründer auch in Weinheim gesammelt. Mit der Resonanz seien sie überaus zufrieden. Im Frühjahr soll die nächste Stufe der Unternehmensentwicklung gezündet werden. „Wir planen, im Frühjahr mit dem Vermietungsmodell rauszugehen“, so die 43-Jährige. Derzeit warten sie auf das erste Anschauungsmaterial ihrer Apps von den Entwicklerfirmen. Dann wird sich auch marketingtechnisch einiges bewegen. Die beiden Gründer sind schon ganz heiß darauf, ihre Ideen für virtuelle Welten in die echte Welt hinauszutragen.
Derzeit läuft eine Crowdfunding-Kampagne (Schwarmfinanzierung), die du hier findest.