LKA-Chef

«Männer ohne Perspektiven» - Neue Erkenntnisse

Schüsse in der Region Stuttgart, ein Handgranatenangriff auf eine Trauerfeier: Wer sind die rivalisierenden Gruppen, deren Auseinandersetzungen die Region Stuttgart seit Monaten erschüttern? Auf diese Frage geben Ermittler nun erstmals konkretere Antworten.

Andreas Stenger, der Präsident des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg. Foto: Bernd Weißbrod/dpa
Andreas Stenger, der Präsident des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg.

Stuttgart (dpa/lsw) - Seit Monaten wird in der Region Stuttgart immer wieder auf Menschen geschossen. Bisheriger Höhepunkt der Gewalt war ein Handgranaten-Anschlag auf eine Trauerfeier in Altbach im Landkreis Esslingen vor knapp zwei Wochen. Die Ermittler sehen Zusammenhänge zwischen den Taten und sprechen von rivalisierenden Gruppen, die sich gegenseitig angreifen. Das Thema hat inzwischen auch die Politik erreicht: In einer Sondersitzung des Innenausschusses informierten Innenminister Thomas Strobl (CDU) und die Chefs von Polizei und LKA am Mittwoch in Stuttgart die Abgeordneten. Dabei wurden auch neue Details bekannt. Ein Überblick:

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Die Gruppen: Erstmals haben die Ermittler konkrete Details zur Motivation der Tatverdächtigen genannt: «Die Täter versuchen durch diese exzessiven Taten ihre Stellung in diesen Gruppen zu festigen oder überhaupt erst zu erreichen», sagte der Präsident des Landeskriminalamts, Andreas Stenger, am Mittwoch am Rande der Sondersitzung des Innenausschusses. Es gehe um Anerkennung und Respekt. Experten bezeichneten das Phänomen als «gewaltlegitimierte Männlichkeit». Die Verdächtigen seien männlich, zwischen 19 und 26 Jahren alt, viele hätten einen Migrationshintergrund. Insgesamt gehe man von grob 300 Mitgliedern auf beiden Seiten aus.

«Das sind Männer, die sozial keine guten Prognosen haben, die im schulischen Kontext nicht erfolgreich sind und keine guten beruflichen Perspektiven haben», sagte Stenger. Sie flüchteten sich «in eine Subkultur, die geprägt ist von Gangster-Rappern». Man könne aber nicht von einem Bandenkrieg sprechen. «Wir haben keine organisierten Strukturen, in denen es um Machtgewinn geht. Und wir haben keine Clankriminalität, weil es keine ethnische Klammer gibt.»

Auch einen politischen Hintergrund halten die Ermittler für nicht wahrscheinlich. Zwar seien unter den Verdächtigen viele Türken kurdischer Abstammung. «Es gibt keinen Bezug zu einer Auseinandersetzung zwischen Kurden und Nationaltürken», sagte der LKA-Chef.

Die Taten: Seit einigen Monaten kommt es im Großraum Stuttgart immer wieder zu Gewalttaten, hinter denen die Ermittler die rivalisierenden Gruppen vermuten - immer wieder wird dabei auch auf Menschen geschossen. Vorfälle gab es unter anderem in Stuttgart-Zuffenhausen, in Plochingen, in Asperg im Kreis Ludwigsburg und in Eislingen im Kreis Göppingen. Den bisherigen Höhepunkt der Auseinandersetzungen markiert ein Anschlag auf eine Trauerfeier in Altbach im Kreis Esslingen. Dort hatte ein 23-Jähriger eine Handgranate auf eine Trauergemeinde geworfen, dabei wurden zehn Menschen verletzt.

Die Ermittlungen: Nach Angaben von Innenminister Thomas Strobl gab es in dem gesamten Tatkomplex inzwischen 20 Festnahmen. Die Polizei ermittle «intensiv und unnachgiebig», sagte der CDU-Politiker nach der Sondersitzung des Innenausschusses. Es habe zudem bereits mehr als 1000 Personen- und Fahrzeugkontrollen gegeben, außerdem eine Abschiebung. An den Ermittlungen sind nach Angaben des Innenministeriums die Polizeipräsidien in Reutlingen, Stuttgart, Ulm und Ludwigsburg sowie das Landeskriminalamt beteiligt.

Die Trauerfeier: Langsam wird auch immer klarer, was am Freitag vor zwei Wochen auf einem Friedhof in Altbach im Kreis Esslingen passiert ist. Am Tatort war damals auch mindestens ein Polizeibeamter. «Es ist richtig, dass Kräfte des Polizeipräsidiums Stuttgart in Altbach vor Ort waren», sagte der Stuttgarter Polizeipräsident Markus Eisenbraun am Mittwoch in Stuttgart.

Ein Polizist sei auf dem Friedhof gewesen, sechs weitere hätten sich in etwas Entfernung aufgehalten. «Uns lagen keine Erkenntnisse vor, dass eine Gefährdung dieser Trauerfeier stattfand», sagte Eisenbraun. «Es lagen Erkenntnisse vor, dass es in den nächsten Tagen vielleicht wieder zu Straftaten auf dem Stuttgarter Stadtgebiet kommt», so der Polizeipräsident. Man habe deswegen nach Fahrzeugen und Personen Ausschau gehalten.

Es sei auch richtig, dass der Beamte auf dem Friedhof nach der Explosion der Handgranate weggerannt sei. «Weil der Täter in seine Richtung flüchtete, wurde er von der hoch aggressiven Gruppe als vermeintlicher zweiter Täter identifiziert», erklärte Eisenbraun. Der Beamte sei dann weggerannt, «weil er um sein Leben fürchten musste». Er habe aber direkt die Kollegen und weitere Einsatzkräfte hinzugerufen.

Die Reaktionen: Aus Sicht der Opposition sind noch immer viele Fragen offen. Die SPD forderte einen Sonderlagebericht von Strobl. «Im Gegensatz zum Ministerpräsidenten erkennen wir eine Sonderlage, es handelt sich nicht nur um einen Einzelfall», sagte SPD-Innenexperte Sascha Binder. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hatte den Sprengstoff-Angriff auf dem Friedhof als «schlimmen und gravierenden» Einzelfall bezeichnet.

Auch Innenminister Strobl betonte: «Wir haben in Baden Württemberg keine vergleichbaren Clanstrukturen, wie es sie in anderen Ländern gibt.» FDP-Innenexpertin Julia Goll kritisierte, dass der Vergleich mit anderen Bundesländern nicht weiterhelfe. «Die Sache wegzureden und sich mit anderen Bundesländern zu vergleichen, in denen noch schlimmere Zustände herrschen, hilft der Bevölkerung auch nichts.» Das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung sei erheblich beeinträchtigt.