Katholische Kirche

Die Missbrauchsfälle von Bensheim

Über 40 Jahre nach Schließung des Bischöflichen Konvikts arbeitet jetzt eine umfassende Studie auch das Geschehen in den 1970er-Jahren und den Umgang damit in der katholischen Kirche auf.

Das Bischöfliche Konvikt in Bensheim in den 1970er-Jahren. Foto: privat
Das Bischöfliche Konvikt in Bensheim in den 1970er-Jahren.

Das heutige Bensheimer Rathaus ist ein imposantes, altehrwürdiges Gebäude. Bis 1981 war darin das Bischöfliche Konvikt untergebracht, ein katholisches Jungeninternat der Diözese Mainz. Bewohnt wurde es von 70 bis 90 Kindern und Jugendlichen der Klassenstufen 5 bis 13, die öffentliche Schulen besuchten.

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Im Jahr 1973 tritt in diesem Konvikt ein neuer Rektor seinen Dienst an. Zu diesem Zeitpunkt laufen gegen den Mann in Bayern zwei Gerichtsverfahren. Obwohl er deshalb bei seinem Bewerbungsgespräch kein Führungszeugnis vorlegen kann, wird er vom Bistum Mainz eingestellt, das zu diesem Zeitpunkt keine Kenntnis von den Gerichtsverfahren hat. Erst, als der Rektor ein Jahr später, 1974, in Bayern tatsächlich zu Bewährungsstrafen verurteilt wird – zum einen wegen sexuellen Missbrauchs von 13- bzw. 14-jährigen Schutzbefohlenen, zum anderen wegen Untreue, Urkundenfälschung und Betrug –, gelangt diese Information auch zu seinem neuen Arbeitgeber in Mainz. Doch für die ranghohen Vertreter des Bischöflichen Ordinariats, denen auch positive berufliche Bewertungen des Mannes vorliegen („guter Pädagoge“, „Organisationstalent“, „Einsatz“), ist dies kein Alarmsignal. Sie vergewissern sich daraufhin lediglich in einem persönlichen Gespräch mit dem Rektor, „ob wir uns in Bensheim 100 % auf ihn verlassen können“, und belassen ihn in seinem Amt.

Mindestens sieben Bewohner sexuell missbraucht

Fünf Jahre später, zum 31. August 1979, kündigt der Rektor seinen Arbeitsvertrag. In der Zeit bis dahin hat er am Bensheimer Konvikt mindestens sieben der jugendlichen Bewohner sexuell missbraucht; bei drei dieser Fälle wird von einer besonders schweren Straftat ausgegangen. Die Dunkelziffer der Betroffenen dürfte allerdings noch höher legen.

Detailliert dargestellt und aufgearbeitet werden diese Geschehnisse jetzt, 44 Jahre nach dem Ausscheiden des Rektors, erstmals im Rahmen einer großangelegten Studie über sexuellen Missbrauch im Bistum Mainz seit 1945.

Nach außen hin gilt der Rektor in seiner Amtszeit in Bensheim als eine Art Lichtgestalt, als moderner Pädagoge und Leiter eines modernen Internats. Innerhalb kurzer Zeit gelingt es ihm, das Konvikt von seiner muffig-düsteren Vergangenheit zu befreien und zu einem offenen, progressiven, an die Selbstverantwortung der Bewohner appellierenden Haus zu machen.

Enge Bindung an den Rektor

Seine Bindung an die Bewohner ist eng, die Schüler der Oberstufe werden von ihm selbst betreut. Ältere Bewohner verfügen über Hausschlüssel und können kommen und gehen und Besuche empfangen, wann sie wollen. Im Keller des Hauses befindet sich eine Bar, in Selbstverwaltung geleitet von den Bewohnern. Außerdem existiert in der Nibelungenstraße eine kleine Außenstelle des Konvikts, in der einige der ältesten Schüler als autonome Wohngemeinschaft leben.

Die Dienstwohnung des Rektors befindet sich – wie das Konvikt – in der Kirchbergstraße, und zwar direkt gegenüber dem Seiteneingang des Internats. In diese Privaträume lädt der Rektor gerne ausgewählte (man könnte auch sagen: auserwählte) Lieblingsschüler ein; die Angaben schwanken zwischen 8 und 20 Jugendlichen zwischen 14 und 20 Jahren, die diese Gruppe umfasst. Bei den Zusammenkünften in der Dienstwohnung trinkt man zusammen, raucht man zusammen, sitzt man gemeinsam vor dem Fernseher.

Starkes Abhängigkeitsverhältnis

In der Studie ist von der „besonderen Stärke“ des Rektors die Rede, „Menschen von sich zu überzeugen und an sich zu binden“. Der Rektor sei eine „Vaterfigur“ gewesen, erinnert sich ein ehemaliger Konviktler 2010, „er hat immer zu seinen Schülern gestanden. Die sind für ihn durchs Feuer gegangen“. Diesen Aufbau enger persönlicher Beziehungen nutzt der Rektor „jedoch auch gezielt für die Anbahnung von sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen“, wie es in der Studie heißt: „Er spendet Trost bei persönlichen Schwierigkeiten, wird zur zentralen Bezugsperson und verschiebt zielgerichtet die Grenzen (…)“. Dem Rektor sei es so gelungen, durch Privilegien und die persönliche Beziehung einige Jugendliche in ein starkes Abhängigkeitsverhältnis zu bringen. Dabei sei es in vielen Fällen zu schwerem sexuellem Missbrauch gekommen.

„Bei Nichtbeachtung gab es Strafen (…) Im Laufe der Jahre entwickelte sich aus den Kontakten eine Gewohnheit. Ich kannte nichts anderes und hatte Angst, meine wichtigste Bezugsperson zu verlieren“ Ein betroffener Schüler

Zitiert – direkt oder indirekt – werden in der Studie zahlreiche Erinnerungen von Opfern. So etwa: „Er wusste seine Macht auszuüben über andere: betatschen, Arm um ihn legen, eine perfide Art und Weise. Er ging immer weiter.“ Oder: „Bei Nichtbeachtung gab es Strafen (…) Im Laufe der Jahre entwickelte sich aus den Kontakten eine Gewohnheit. Ich kannte nichts anderes und hatte Angst, meine wichtigste Bezugsperson zu verlieren“. Ein anderer Betroffener berichtet davon, die Wochenenden oft in der Wohnung des Rektors verbracht zu haben, „ab und zu auch wochentags nachts – stets mit Sexualkontakt und Analverkehr“. Zudem gibt es Aussagen ehemaliger Schüler, dass der Rektor auch im Schlafsaal des Konvikts „Kindern unter die Decke gegriffen oder vor ihnen onaniert“ habe.

Wer auf Distanz geht, wird bedroht

Betroffene, die versuchen, auf Distanz zu dem Rektor zu gehen, werden mit der Drohung konfrontiert, das Konvikt verlassen zu müssen. Genau das aber ist vor allem für jene Bewohner unvorstellbar, die dort tatsächlich ein Zuhause gefunden hatten. Die Opfer des Rektors stammen denn auch „überwiegend aus Familien, in denen ein warmherziger und liebevoller Kontakt nicht vorhanden war“, zitiert die Studie aus einem Schreiben. So hätten die dominante Position des Rektors und seine allgemeine Beliebtheit dafür gesorgt, „dass zahlreiche Mitwisser unter den Schülern, aber auch im Personal, bewusst die Augen vor der Realität verschließen und weder Vorfälle melden noch den Betroffenen Unterstützung zukommen lassen“. Sogar lange Zeit später, nach dem Jahr 2010, als die früheren Geschehnisse im Konvikt erstmals in größerem Umfang öffentlich und zum Thema in Medien geworden sind, gibt es noch ehemalige Schüler, die ihren damaligen Rektor als „Superpädagogen“ beschreiben.

Welches Risiko mit diesem „Superpädagogen“ verbunden war, hätte die Kirchenleitung in Mainz bereits 1974 zumindest ahnen können, als die Gerichtsurteile aus Bayern gegen den Mann vorliegen. Doch man gibt sich damals mit treuherzigen Aussagen des Rektors zufrieden. Die Studie spricht von „sorglosem, ja blindem Vertrauen“, das ihm entgegengebracht worden sei, und von „völlig fehlenden Kontrollmaßnahmen“ durch die Bistumsführung.

Briefe der Eltern an die Bistumsleitung

Die Frage, ab wann frühestens die Kirchenleitung konkret über die Missbrauchsfälle im Konvikt informiert gewesen ist, können die Autoren der Studie nicht eindeutig beantworten, weil es hierzu teilweise widersprüchliche bzw. nicht eindeutig belegte Angaben gibt. Sicher ist, dass es in den späten 1970er Jahren innerhalb des Konvikts mindestens Gerüchte und Andeutungen über den Missbrauch gegeben hat. Sicher ist auch, dass spätestens ab dem Frühjahr 1979 ein Pädagoge, der mit seiner Frau am Konvikt arbeitet und dort auch wohnt, sowie ein als Seelsorger im Konvikt tätiger Priester von den Vorgängen wissen, nachdem sich vom Missbrauch betroffene Schüler dem Pädagogenpaar anvertraut haben. Möglicherweise hat diese neue Mitwisserschaft auch den Rektor veranlasst, seine Kündigung einzureichen. Und ebenfalls sicher ist, dass es Briefe von Eltern an die Bistumsleitung mit entsprechenden Hinweisen gegeben hat; belegt werden können diese aber erst für die Zeit nach dem Ausscheiden des Rektors, also nach 1979.

Da damit keine belastbaren Hinweise darauf vorliegen, dass die Kirchenleitung wirklich bereits spätestens 1979 über die Vorgänge in Bensheim informiert ist, kommt die Studie zu dem Schluss, dass eine Kenntnis des Bistums über den verübten Missbrauch im Konvikt vor dem Ausscheiden des Rektors „nicht nachzuweisen und als wenig wahrscheinlich anzusehen“ sei.

Die Rolle des Bistums

Anders sieht es spätestens ab dem Jahr der Schließung des Konvikts aus: Im Februar und März 1981 erhalten sowohl Bischof Hermann Volk als auch Domdekan Hermann Berg Briefe von Bensheimer Konviktlern mit eindeutigen Aussagen; eines der Schreiben stammt von einem Opfer des Rektors. Ende März 1981 kommt es daraufhin zwar zu einem persönlichen Gespräch des Opfers mit dem Mainzer Bischof, doch der kirchliche Würdenträger will sich mit den Missbrauchsfällen nicht beschäftigen: „Im Gespräch wurde mir vom Bischof klargemacht, dass das ja vorbei sei und er andere Sorgen hätte“, erinnert sich der Betroffene. Und: „Das Gespräch war deprimierend und ernüchternd. Ich fühlte mich, als würde ich gegen eine Wand laufen.“

„Interesse an Aufklärung sowie etwaiger Unterstützung für Betroffene bestand nicht.“ Fazit der Studie

Domdekan Hermann Berg sucht nach den Briefen aus dem Konvikt zwar das Gespräch mit dem Ex-Rektor. Dieser gibt dabei, am 24. März 1981, auch zu, sexuelle Kontakte mit Schülern gehabt zu haben. Es habe sich dabei um drei bis vier Jungen gehandelt, sei aber nach Weihnachten 1978 beendet gewesen. Doch dieses Geständnis bleibt für den Ex-Rektor ohne Folgen. Und so kann er kurz darauf, im Mai 1981, in einem Brief an Domdekan Berg sogar schreiben: „Ich verbleibe mit aufrichtigem Dank für alle Ihre Hilfe, Ihr Verständnis und für das Vertrauen, das Sie mir geschenkt haben und das mich gehalten und getragen hat.“ Die Autoren der Studie kommen zu dem Schluss: „Interesse an Aufklärung sowie etwaiger Unterstützung für Betroffene bestand nicht.“

Recherche gestaltet sich als schwierig

Erst 2010, als das Thema sexualisierte Gewalt deutschlandweit diskutiert wird und immer mehr Fälle ans Tageslicht kommen, wird die öffentliche Aufmerksamkeit auch auf das Bensheimer Konvikt gelenkt. Die kircheninterne Recherche gestaltet sich daraufhin allerdings schwierig, weil die Vorgänge und die Schließung des Hauses mittlerweile schon viele Jahre zurückliegen, die damaligen Verantwortlichen im Bistum mittlerweile verstorben sind und die frühere Aktenführung sich als mangelhaft erweist.

In der Folge kommt es zu immer mehr Meldungen von Bensheimer Betroffenen beim Bistum. Doch was eine institutionelle Aufarbeitung angeht sowie die Frage der (nicht nur finanziellen) Hilfe für die Opfer, tut sich die Kirche weiterhin schwer. So schreibt noch 2018 ein Betroffener aus dem Konvikt an die Bistumsleitung: „Ich bin 61 Jahre alt und auf der Suche nach Frieden … immer noch. (…) Es waren die Opfer aus Bensheim allesamt namentlich bekannt, auch ich habe zur Aufklärung beigetragen. Warum kam da nie ein Hilfsangebot, nie ein Gespräch oder zumindest das Angebot von finanzieller Unterstützung?“

Reaktion von Bischof Kohlgraf

Der aktuelle Mainzer Bischof Peter Kohlgraf zeigt sich bei der Vorstellung der Studie vor wenigen Wochen bestürzt und erschüttert über die Ergebnisse und Erkenntnisse. Wie sein Amtsvorgänger, Bischof Karl Lehmann, mit dem Thema umgegangen sei, sei „erschreckend“. Der Betroffenen-Vertreter Jürgen Herold bescheinigt der Untersuchung, sie sei vorbildlich. Die Forderung von Herold, das Bistum möge jeden der Betroffenen pauschal mit einer sechsstelligen Entschädigungssumme versehen, damit die Kosten für die oft lebenslang notwendige psychische Betreuung der Opfer beglichen werden können, wird von Kohlgraf aber zurückgewiesen: Eine solche Pauschale werde „nicht wirklich Gerechtigkeit herstellen“.