Diese Strafe fordert der Staatsanwalt im „Schabernack“-Prozess
Von Mordversuch ist im Prozess gegen Steven W. keine Rede mehr. Am Montag stellten die Juristen ihre Forderungen. Und Richter Dr. Joachim Bock überraschte vor seinem Urteil mit einer neuen Erkenntnis über den 20-Jährigen.

Weinheim/Mannheim. Ein Messer liegt auf dem Richtertisch von Dr. Joachim Bock. Oberstaatsanwalt Frank Höhn hatte die Tatwaffe zum dritten Verhandlungstag des „Schabernack“-Prozesses aus der Asservatenkammer besorgen lassen und mit ins Landgericht gebracht. Mit ihr soll der Angeklagte Steven W. in der Nacht vom 16. auf den 17. Dezember einen 48-jährigen Türsteher der Weinheimer Diskothek im Drogenrausch angegriffen und gefährlich im Halsbereich verletzt haben. Nun stellten Staatsanwaltschaft und Verteidigung ihre Forderungen für die Strafe.
Die letzten Zeugenaussagen setzten den Ton für die Verhandlung der Großen Jugendkammer. Es handelte sich um die Schilderungen derjenigen, die das Opfer nach der Attacke erlebten. Der 49-jährige Securitymann, der sich um seinen verletzten und stark blutenden Kollegen gekümmert hatte, kam zu Wort. Er erzählte von der Todesangst des Opfers: „Er wollte nicht auf den Rettungswagen warten und sagte zu mir: ,Fahr mich so schnell wie möglich ins Krankenhaus.’“ Obwohl er selbst Panik hatte, hat der Türsteher versucht, seinen verletzten Kollegen zu beruhigen. „Wir wussten nicht, wie schwer er verletzt wurde, und haben befürchtet, es hat die Halsschlagader erwischt.“ Im vollen Tempo rasten die beiden in Richtung GRN-Klinik. Immer wieder hat das Opfer wiederholt: „Ich sterbe, ich sterbe.“ Auf dem Weg ist ihnen dann der Krankenwagen entgegenkommen. Mit der Lichthupe stoppte der Fahrer die Sanitäter und übergab seinen Kollegen in ihre Hände.
Nach dem Türsteher betrat eine 41-jährige Kriminaloberkommissarin den Zeugenstand. Sie sollte das Opfer in der Tatnacht im Krankenhaus vernehmen. Was zunächst nicht möglich gewesen sei: „Wir waren die meiste Zeit vor seinem Zimmer und durften den Geschädigten nicht sprechen.“ Erst als er „genäht und getackert“ war, erlaubte das Krankenhauspersonal eine vorsichtige Vernehmung. Zu diesem Zeitpunkt sei das Opfer sehr ruhig und gefasst gewesen, auch wenn es nur vorsichtig hatte sprechen können. Richter Bock erkundigte sich noch, ob der Verletzte unter Beruhigungsmitteln stand, was nicht beantwortet werden konnte.
Keine Stichverletzung
Das rechtsmedizinische Gutachten, aus dem der Richter vorlas, attestierte eine mittelschwere Kieferverletzung mit einer zehn Zentimeter langen, drei Zentimeter breiten und zwei Zentimeter tiefen Wunde. Es handele sich „am ehesten um eine Schnittverletzung“. Schnittverletzung? Oberstaatsanwalt Frank Höhn hatte in der Verlesung der Anklage noch von zwei Stichen gegen den Hals gesprochen. Dieser Vorwurf wurde im Verlauf des Gerichtsverfahrens entkräftet. Nach Aussage des 48-jährigen Opfers habe es sich nicht um Stiche gehandelt. Am vorangegangenen Verhandlungstag hatte er die Bewegung bereits vorgeführt, die einem Kinnhaken geglichen hatte.
Und so stufte die Staatsanwaltschaft in ihrem Plädoyer auch ihren Vorwurf herunter: Es war nicht mehr von versuchtem Mord oder Totschlag die Rede, sondern von einer Gefährlichen Körperverletzung. „Er versetzte dem Geschädigten unvermittelt einen Schlag, wobei er zuvor das Messer in die Hand genommen hatte“, sagte Frank Höhn. „Wir haben es mit einer sehr gefährlichen Gewalttat zu tun. Ein möglicher tödlicher Ausgang wurde erkannt und in Kauf genommen.“ Höhn berücksichtigte die Ergebnisse des forensisch-psychiatrischen Gutachtens, das von einer stark eingeschränkten Steuerungsfähigkeit Steven W.s gesprochen hatte.
Der 20-Jährige hatte das vormals als Valium bekannte Beruhigungsmittel Diazepam, Alkohol und Cannabis zu sich genommen. Dennoch war der Oberstaatsanwalt davon überzeugt, dass W. sein Handeln zum Tatzeitpunkt als Unrecht erkennen konnte. Seine Forderung: drei Jahre und neun Monate Freiheitsstrafe und eine Unterbringung in einer Entzugsanstalt.
Anwältin Brigitte Bertsch sah das anders. Eine Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung setze voraus, dass schuldhaft gehandelt wurde, argumentierte sie in ihrem Plädoyer. Sie bezog sich ebenfalls auf das Gutachten des Psychiaters. Steven W.s Einsichtsfähigkeit sei während der Tat mindestens erheblich vermindert gewesen. Es sei nicht auszuschließen, dass er kein Unrechtsbewusstsein gehabt habe. „Es fehlt an der Schuld“, resümierte Bertsch. Ebenfalls brachte sie den Realitätsverlust ihres Mandanten an. Zeugen hatten berichtet, Steven W. hätte bei Ankunft der Polizei gedacht, er selbst befände sich in der Opferrolle und habe in Notwehr gehandelt. Ihre Forderung: keine Haftstrafe, lediglich eine Unterbringung in einer Entzugsanstalt.
Schmerzensgeld für das Opfer
Wenigstens die Nebenklage war zufrieden. Denn auf eine Sache konnten beide Seiten sich einigen: den Vergleich zugunsten des Opfers. So muss Steven W. insgesamt 15 000 Euro Schmerzensgeld zahlen (5000 Euro davon hat er bereits bezahlt). Hinzu kommen 1200 Euro für außergerichtliche Anwaltskosten und 4000 Euro für die Kosten des Adhäsionsverfahrens (also die zivilrechtlichen Ansprüche). Weiter muss er dem Opfer in der Zukunft jegliche Schäden (etwa Behandlungen) zahlen, die durch seine Tat entstanden sind.
Das Urteil soll nun am Mittwochnachmittag von dem Vorsitzenden Richter Bock gesprochen werden. In der Verhandlung am Montag sprach er W. noch auf ein anderes, mittlerweile eingestelltes, Ermittlungsverfahren an, das gegen den 20-Jährigen wegen des Einsatzes eines Messers geführt wurde.
„Es war knapp an etwas Schlimmerem vorbei – da brauchen wir kein Wort darüber zu verlieren“, äußerte Bock sich bereits vor seinem Urteil zur Tat. Werde die Ader getroffen, brauche es keinen Notarzt mehr. „Dem Opfer kann man nur noch beim Verbluten zuschauen, so schnell geht das.“ Und weiter: „Es ist mehr als richtig, dass man die jungen Leute davor warnt, ein Messer mitzunehmen und einzusetzen.“