Weinheim

Mehr Obdachlose denn je: So schwierig ist die Lage in Weinheim

Seit 2015 hat sich die Zahl der Menschen, die Unterstützung bei der Wohnungslosenhilfe der Caritas in Weinheim suchen, drastisch erhöht. Im Interview erzählen Helfer, wieso.

Rund 15 Prozent der Obdachlosen in Deutschland leben auf der Straße. Foto: Bild: Kara/Adobe Stock
Rund 15 Prozent der Obdachlosen in Deutschland leben auf der Straße.

Auf der Straße, bei Freunden, in Obdachlosenunterkünften: Mehr als eine Viertelmillion Menschen in Deutschland leben ohne eigenes Obdach. Diese Zahl nennt der Wohnungslosenbericht 2022 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Und es werden immer mehr. Das bestätigen auch Stefan Dugeorge, Referatsleiter Soziale Dienste beim Caritasverband für den Rhein-Neckar-Kreis, und Ellen Herzhauser von der Wohnungslosenhilfe der Caritas in Weinheim. Doch wie sieht es in Weinheim und im Kreis aus? Welche Personengruppen sind besonders betroffen? Und welche Anstrengungen werden unternommen, um der Lage Herr zu werden? Eine Bestandsaufnahme.

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Nach Angaben der Stadtverwaltung sind aktuell 122 Menschen in Obdachlosigkeit in Weinheim untergebracht – das sind so viele wie noch nie. Wie sieht es im Rhein-Neckar-Kreis aus?

Stefan Dugeorge: Bei den 122 Menschen in Obdachlosigkeit in Weinheim handelt es sich nur um den Personenkreis, der von der Stadt Weinheim im Rahmen des Polizeigesetzes Baden-Württemberg ordnungsrechtlich in Notunterkünften untergebracht wurde. Die Anzahl der tatsächlich wohnungslosen Personen ist jedoch höher, denn es gibt noch eine große Anzahl an Menschen, die als wohnungslos gelten und bei Freunden, Bekannten oder Verwandten unterkommen, ohne sich dort polizeilich anmelden zu können. Diese Menschen vermeiden aus unterschiedlichsten Gründen den Weg in eine Notunterkunft und tauchen in der Statistik nicht auf. Vor diesem Hintergrund muss man auch die Zahl der zuletzt 2019 in 46 Städten und Gemeinden des Rhein-Neckar-Kreises erfassten wohnungslosen Menschen sehen. Hier wurden bis zum 31. Dezember 2019 1140 untergebrachte Menschen gemeldet.

Gibt es Brennpunkte im Kreis?

Ellen Herzhauser: Nach unserer Kenntnis und Beobachtung bestehen im Rhein-Neckar-Kreis als großem Flächenlandkreis keine großen, regionalen Brennpunkte, wie das in Stadtkreisen oft der Fall ist. Es gibt zwar Treffpunkte, die von diesem Personenkreis häufiger aufgesucht werden, jedoch verteilt sich die Anzahl der Personen, die im Freien nächtigen, über den gesamten Landkreis. Dazu werden beispielsweise Schrebergärten oder die Wälder der Bergstraße genutzt.

Wie schätzen Sie die Entwicklung der zurückliegenden Jahre ein?

Dugeorge: Laut statistischer Auswertung der Fachberatung der Wohnungslosenhilfe am Standort Weinheim hat sich die Anzahl der beratenen und begleiteten Menschen von 187 im Jahr 2015 auf 323 Personen im Jahr 2022 um rund 80 Prozent erhöht. Diese Steigerung deckt sich mit den Zahlen der anderen Fachberatungsstellen im Rhein-Neckar-Kreis beziehungsweise auf Landesebene und zeigt sich auch in unserer Tagesstätte für Wohnungslose in der Paulstraße 2 in Weinheim. Hier hat sich – auch infolge der Auswirkungen der Corona-Pandemie – die Anzahl der Personen, die unsere niedrigschwelligen Versorgungsangebote wie beispielsweise Essensausgabe, Wäschereinigung und Duschmöglichkeiten, nutzen, massiv erhöht. Die Folgen der steigenden Inflation, insbesondere die Kostensteigerungen bei den Grundnahrungsmitteln, traf und trifft den von uns begleiteten Personenkreis außerordentlich stark. So nutzen derzeit bis zu 40 Besucher täglich das kostenfreie Frühstücks- und Mittagessensangebot der Tagesstätte, das wir dank der finanziellen Unterstützung der Hector Stiftung Weinheim aufrechterhalten können.

Welche Personengruppen sind besonders betroffen?

Herzhauser: Wir erleben vor allem eine Zunahme von wohnungs- und obdachlosen Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen beziehungsweise psychischen Auffälligkeiten. Im Gegensatz zu den Berichten aus größeren Städten können wir aktuell keine auffallende Zunahme von Rentnern, die unsere Fachberatung und/oder unser Tagesstätten-Angebot in Anspruch nehmen, feststellen.

Vor welchen – neuen oder bleibenden – Herausforderungen steht die Wohnungslosenhilfe der Caritas?

Herzhauser: Ein großes Problem ist bekanntermaßen die Unterversorgung der Menschen mit preisgünstigem Mietwohnraum auf dem Wohnungsmarkt. Hier leisten wir zunächst Präventionsarbeit bei drohendem Wohnungsverlust, um Wohnungslosigkeit möglichst zu vermeiden. Zum anderen wollen wir uns künftig noch mehr auf die bessere Vernetzung und Zusammenarbeit mit Baugenossenschaften, Wohnungsverwaltungen und städtischen Wohnungsbaugesellschaften konzentrieren, damit unsere Klienten geeigneten und vor allem bezahlbaren Wohnraum finden können. Ebenso wird die engere fachliche Verzahnung mit der Jugendhilfe, den sozialpsychiatrischen Diensten und auch mit Pflegediensten eine immer wichtigere Rolle spielen. Denn auch unsere Klienten werden immer älter und sind aufgrund der belastenden und schwierigen Lebensumstände oft in einer schlechten gesundheitlichen Verfassung. Auch aus diesem Grund bietet unsere Wohnungslosenhilfe am Standort Weinheim seit Dezember 2022 zweimal wöchentlich eine kostenfreie ärztliche Sprechstunde an, die von drei ehrenamtlich tätigen Ärzten ermöglicht wird. Dieses Angebot soll den Weg zurück in die medizinische Regelversorgung ebnen und wird von den Klienten gut angenommen.

Welche Anstrengungen werden noch unternommen?

Dugeorge: Insbesondere vor dem Hintergrund, dass in einigen Kreisregionen bisher keine Angebote für Wohnungslose bestehen, hat sich der Rhein-Neckar-Kreis mit der neuen Konzeption ‚Wohnungslosenhilfe im Rhein-Neckar-Kreis‘, die seit 2023 schrittweise umgesetzt wird, den flächendeckenden Auf- und Ausbau von Beratungs- und Versorgungsangebote für wohnungs- und obdachlose Menschen in Zusammenarbeit mit anderen sozialen Trägern der Wohnungslosenhilfe vorgenommen. Die Herausforderung besteht hier vor allem in der kostendeckenden Finanzierung der Fachberatungs- und Tagesstättenangebote durch die Kommunen, die noch nicht abschließend geklärt ist.

Wie wirkt sich der Zustrom von Flüchtlingen auf Ihre Arbeit aus?

Herzhauser: Durch die notwendige Unterbringung von geflüchteten Menschen verschärft sich der Mangel an bezahlbarem Wohnraum weiter. Für unsere Klienten wird es dadurch noch schwieriger, geeignete Wohnungen zu finden und sie verbleiben länger in unserer Beratung.