Weinheim

175 Jahre Freudenberg: Steter Wandel betrifft auch Weinheim

Zum Jubiläum von Weinheims größtem Arbeitgeber, der Firma Freudenberg, hat sich die Redaktion mit Martin Wentzler unterhalten, der die Interessen der Familie vertritt. Plus viele weitere Beiträge zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Martin Wentzler ist Vorsitzender des Gesellschafterausschusses und ein Ururenkel des Gründers Carlo Johann Freudenberg. Foto: Fritz Kopetzky
Martin Wentzler ist Vorsitzender des Gesellschafterausschusses und ein Ururenkel des Gründers Carlo Johann Freudenberg.

In den vergangenen 175 Jahren hat sich die Firma Freudenberg immer wieder neu erfunden. Doch eines hat sich nicht geändert: Freudenberg ist ein Familienunternehmen und soll es auch bleiben. Über das Selbstverständnis der Gesellschafter und die Bedeutung Weinheims, aber auch über die aktuelle politische Lage hat sich die Redaktion mit Martin Wentzler unterhalten. Der 71-Jährige ist Vorsitzender des Gesellschafterausschusses der Freudenberg & Co. Kommanditgesellschaft sowie Vorsitzender des Aufsichtsrats der Freudenberg SE.

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Freudenberg ist bis heute ein Familienunternehmen. Das heißt: Gesellschafter können nur Familienmitglieder sein. Wie sieht denn Ihr persönlicher „Freudenberg-Stammbaum“ aus?

Martin Wentzler: Ich bin ein Ururenkel des Firmengründers Carl Johann Freudenberg. Mein Großvater war Richard Freudenberg, dessen Vater war Hermann Ernst Freudenberg.

Welche Bedeutung hatte das Unternehmen in Ihrer Kindheit für Sie persönlich? Wie wurde das „Freudenberg-Gen“ bei Ihnen aktiviert?

Wentzler: Ehrlich gesagt, hat das bei uns mit dem ersten Atemzug begonnen. Mein Vater war damals in der Firma für das Dichtungsgeschäft zuständig. Er hat uns am Wochenende oft mit in die Firma genommen, wenn er nach dem Rechten geschaut hat. Außerdem waren wir als Kinder viel bei unseren Großeltern, auch da stand die Firma immer im Mittelpunkt. Wenn mein Großvater Besuch hatte – und er hatte viel Geschäftsbesuch – dann haben wir das immer mitbekommen. Das war außerordentlich spannend. Ich kann mich zum Beispiel gut an den Besuch von Bundespräsident Theodor Heuss erinnern. Wir durften als kleine Steppke durch die Küchentür mal reinschauen. Aber auch im persönlichen Gespräch mit meinem Vater und meinem Großvater stand die Firma oft im Mittelpunkt.

Beim 150-jährigen Jubiläum gab es 280 Gesellschafter. Heute hat Freudenberg bereits 374 Gesellschafter. Wie gelingt es bei solch einer Größenordnung, die rund um den Globus verteilt lebenden Familienmitglieder für die gemeinsamen Wurzeln, aber auch für die gemeinsamen Ziele zu begeistern?

Wentzler: Das erfordert viel Aufwand seitens des Unternehmens und des Gesellschafterausschusses, der ja nicht nur die Aufgabe eines Aufsichtsrates hat, sondern auch dafür zuständig ist, ein gutes Einvernehmen zwischen dem Unternehmen und der Familie herzustellen. Wir machen daher sehr viele Veranstaltungen, wir informieren sehr umfangreich. Wir haben zum Beispiel jedes Jahr im Juni unsere Gesellschafterversammlung in Weinheim, die als großes Familientreffen im Hermannshof gefeiert wird. Wir führen alle zwei Jahre Regionaltreffen durch – eines in den USA, eines in England und drei in Deutschland – Berlin, München und Weinheim. Dazwischen bieten wir zahlreiche Informationsveranstaltungen an, und wir haben einen Gesellschafter-Informationskreis, an dem 20 Teilnehmer innerhalb von zwei Jahren vier Standorte des Unternehmens und deren Mitarbeiter vor Ort kennenlernen können. Das wird sehr gut angenommen.

Wie würden Sie die DNA der Firma Freudenberg auf den Punkt bringen?

Wentzler: Die DNA der Firma Freudenberg besteht aus Wandlungsfähigkeit und Flexibilität, technischer Exzellenz und sozialer Verantwortung. Das können Sie mit dem Zusatz der Bescheidenheit auch auf die Familie übertragen.

Der Gesellschaftsvertrag wurde 2015 für 30 Jahre verlängert. War es damals eine Option, das Unternehmen in eine börsennotierte Aktiengesellschaft umzuwandeln?

Wentzler: Das ist damals nicht diskutiert worden. Aber die Umwandlung in eine Kapitalgesellschaft steht grundsätzlich als Option im Gesellschaftervertrag; dazu wäre eine Mehrheit von 75 Prozent erforderlich. 2015 ging es darum, ob der Gesellschaftervertrag um 30 Jahre verlängert werden soll oder nicht. Hätte man darauf verzichtet, hätte die Bindung nur bis 2030 gegolten. Daher war es eine ganz starke Botschaft, dass sich 100 Prozent der Gesellschafter für die Verlängerung bis 2045 ausgesprochen haben. Das war ein klares Bekenntnis zu unserer Zielhierarchie: Deren oberstes Gebot ist das Überleben des Unternehmens. An zweiter Stelle steht der Erhaltung der Familiengesellschaft, wenn dies nicht im Konflikt zum ersten Ziel steht. An dritter Stelle steht die langfristige Rentabilität. Erst an vierter Stelle folgt die kurzfristige Rentabilität. Die Botschaft lautete also: Wir sind weiterhin nicht auf die Maximierung von Erträgen aus, wir verstehen uns nicht als Finanzinvestoren, sondern als Unternehmerfamilie.

Trifft es eigentlich zu, dass kein Gesellschafter von Freudenberg mehr als drei Prozent der Anteile halten darf und dass im Prinzip der größte Teil des Jahresgewinns als Reserve zur Reinvestition im Unternehmen bleibt?

Wentzler: Diese Drei-Prozent-Regel gibt es nicht, auch wenn sie in einigen Zeitungsarchiven herumspukt. Allerdings ist der größte Gesellschafter die Freudenberg Stiftung – deren Anteile liegen knapp über drei Prozent. Die Durchschnittsbeteiligung der Gesellschafter beträgt dagegen unter einem Prozent. Was die Ausschüttung an die Gesellschafter angeht, liegen wir im Vergleich mit anderen Familienunternehmen am unteren Rand der Bandbreite. Wir schütten sehr bescheiden aus, aber wir haben unseren Gesellschaftern dafür eine Kontinuität zugesagt.

Martin Wentzler im Interview. Foto: Fritz Kopetzky
Martin Wentzler im Interview.

Wie viele Familienangehörige arbeiten eigentlich im Unternehmen?

Wentzler: Heute fast niemand mehr. Das ist das Ergebnis einer schrittweisen Entwicklung, die mit der Ernennung von Dr. Peter Bettermann als erstem Nichtfamilienmitglied zum Sprecher der Unternehmensleitung eingesetzt hat. 2013 sind wir dann gemeinsam mit externen Beratern der Frage nachgegangen, wie wir Familienmitglieder im Unternehmen beschäftigen können, ohne dass es zu Konflikten kommt. Das Problem war der Aufstiegsprozess, also die Frage: Wird jemand befördert, weil er Familienmitglied ist? Oder wird er womöglich gerade deshalb nicht befördert? Wir kamen dann zu dem Ergebnis, dass Familienmitglieder für Praktika, Ausbildung oder für ein duales Studium im Unternehmen willkommen sind. Danach müssen sie aber aus der Firma ausscheiden und können sich erst wieder nach erfolgreicher Karriere in einer anderen Firma bei Freudenberg für die oberen zwei Führungsebenen bewerben – in einem objektiven Prozess gegen interne Bewerber.

Wie hoch ist der Zeitaufwand für Sie als Vorsitzender des Gesellschafterausschusses von F&Co. (seit 2014) und als Aufsichtsratsvorsitzender von Freudenberg SE?

Wentzler: Seit ich den Vorsitz des Gesellschafterausschusses 2014 übernommen habe, kümmere ich mich ausschließlich darum. Es ist zwar kein klassischer Job mit täglichen Bürozeiten, aber Sie haben jeden Tag damit zu tun, müssen eine Menge reisen, Sitzungen vorbereiten und vieles mehr. Das ist mit einer anderen Aufgabe nicht zu vereinbaren.

Wie gelingt es, bei einem so breit aufgestellten Unternehmen den Überblick zu behalten? Wie groß muss das Vertrauen in den Vorstand sein?

Wentzler: Vertrauen ist eines der Führungsprinzipien, die schon Firmengründer Carl Johann Freudenberg formuliert hat: Lieber vertraue ich einmal zu viel und werde enttäuscht, als ständig zu misstrauen und dadurch die Mitarbeiter an ihrer Entfaltung zu hindern. So ist das auch im Verhältnis zwischen Vorstand und Aufsichtsrat. Wir haben einen sehr umfangreichen und transparenten Informationsprozess, der bis ins Detail geht. Ich habe aber auch vom ersten Tag an eine sehr offene Kommunikationskultur mit unserem Vorstandsvorsitzenden Dr. Mohsen Sohi. Das Vertrauensprinzip gilt aber auch im Umgang mit dem Gesellschafterausschuss.

Vor 25 Jahren sagte Ihr Vorgänger, Dr. Reinhart Freudenberg: „Zentrum des Unternehmens war, ist und wird immer Weinheim sein.“ Würden Sie diesen Satz heute genauso unterschreiben?

Wentzler: Für die Vergangenheit und die Gegenwart würde ich diesen Satz auf jeden Fall unterschreiben. Ob Weinheim in Zukunft für immer das Zentrum sein wird, würde ich so nicht mehr mit 100-prozentiger Sicherheit unterschreiben. Schauen Sie sich nur die Entwicklung in der Coronazeit an, als wir nicht reisen konnten. Da haben wir festgestellt, dass wir zu wenige technische Experten in einigen Regionen hatten, dass wir zu viel Führungskompetenz in Weinheim und nicht in den Regionen haben. Daher haben wir das Projekt „Balance“ gestartet, um dafür Sorge zu tragen, dass wir auch in solchen Krisenzeiten vor Ort die notwendige Führungskompetenz haben. Weinheim wird immer eine wichtige Rolle spielen und der Mittelpunkt für Forschung und Entwicklung sein. Und es wird der Mittelpunkt der Familie bleiben. Aber ob die Unternehmensleitung zu 100 Prozent immer in Weinheim sitzt oder in Zukunft ein Mitglied in den USA und eins in Asien, das hängt davon ab, wie sich die Welt weiterentwickelt.

Blickt man auf vergangene Jubiläen zurück, so wurden diese Anlässe oft mit sozialem oder gesellschaftlichem Engagement verbunden. Vor 150 Jahren gründete zum Beispiel Carl Johann Freudenberg einen Krankenversicherungsverein – die heutige BKK Freudenberg – für die Mitarbeiter, noch bevor die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland (1884) eingeführt wurde. Und vor 25 Jahren wurde das internationale Jugendaustauschprogramm TANNER (engl. für Gerber) für Mitarbeiterkinder ins Leben gerufen? Was ist daraus eigentlich geworden?

Wentzler: TANNER haben wir seit Corona stillgelegt. Aber es wurde aus Sicherheitsgründen auch immer schwieriger, die Verantwortung für diese Auslandsreisen junger Menschen zu übernehmen. Vor 25 Jahren war man da sicher sorgloser. Aber es wird eine Art TANNER Reloaded zum 175-jährigen Jubiläum für die Kinder von Mitarbeitern geben. Mehr möchte ich noch nicht verraten. Außerdem haben wir unser Programm für soziale Projekte um weitere drei Millionen Euro aufgestockt. Da stehen nun 21 Millionen Euro zur Verfügung, mit denen wir rund 190 Projekte weltweit fördern.

Worauf dürfen sich die Mitarbeiter ansonsten zum 175-jährigen Jubiläum freuen?

Wentzler: Wir wollen klein und bescheiden an allen Standorten mit unseren Mitarbeitern feiern. Einen Festakt wird es im Juni am Ende der Gesellschafterversammlung in Weinheim geben. Außerdem wird es eine neue Unternehmenschronik in Buchform geben. Als Autor haben wir dafür Carsten Knop von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gewonnen, der fast drei Jahre lang – mit Unterstützung unseres Archivs – daran gearbeitet hat. Die Arbeit wurde zudem wissenschaftlich begleitet von Professor Dr. Werner Plumpe aus Frankfurt und ist eine objektive, quellenbasierte Chronik des Unternehmens geworden. Es ist nicht einfach nur eine Aufzählung von Fakten, sondern liest sich sehr spannend. Man erfährt sehr anschaulich, dass das Unternehmen einem ständigen Wandel unterworfen war und wie man es hinbekommen hat, immer wieder neue Wege zu gehen.

1984, also vor 40 Jahren, wurde von Gesellschaftern die Freudenberg Stiftung für ein friedliches Zusammenleben und eine starke demokratische Zivilgesellschaft gegründet. Sie selbst sind seit 2019 stellvertretender Vorsitzender der Gesellschafterversammlung der Freudenberg Stiftung. Diese Themen sind heute aktueller denn je. Wie beurteilen Sie die politischen Entwicklungen (nicht nur) in Deutschland? Sollten sich große Unternehmen wie Freudenberg stärker in die öffentliche Debatte einbringen?

Wentzler: Ich mache mir natürlich auch große Sorgen über die politische Entwicklung. Ich sehe weltweit, dass Gesellschaften zunehmend gespalten sind – nicht nur in den USA, sondern auch in anderen Ländern. In Deutschland habe ich eher den Eindruck, dass die Zahlen der AfD gar nicht so hoch wären, wenn die Unzufriedenheit mit der aktuellen Politik der Bundesregierung nicht so groß wäre. Grundsätzlich finde ich, dass sich nicht jedes Unternehmen zu aktuellen politischen Entwicklungen auf nationaler Ebene äußern sollte; dafür gibt es bei Bedarf die Unternehmerverbände. Allerdings haben wir uns im Fall des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine eindeutig positioniert, weil dies auch der Wunsch der Gesellschafter und von den Mitarbeitern war. Das ist bei vielen anderen politischen Fragen nicht so eindeutig. Aber mit der Freudenberg-Stiftung machen wir auch nach außen deutlich, wofür die Gesellschafter und das Unternehmen grundsätzlich stehen. Das schlägt sich auch in den Unternehmensgrundsätzen nieder, die für alle Mitarbeiter gelten. Freudenberg steht global für Vielfalt, Respekt und Toleranz.

In zwei Jahren erreichen Sie als Vorsitzender die Altersgrenze. Ist über die Nachfolge bereits entschieden?

Wentzler: Ich werde mein Amt bereits im Juni abgeben. Denn wegen der Altersgrenze hätte ich mich bei der turnusmäßig anstehenden Neuwahl nicht mehr für eine volle Amtszeit wählen lassen können. Daher fand ich, dass das Jubiläum ein guter Anlass ist, um nach zehn Jahren das Amt abzugeben. Über meine Nachfolge entscheidet dann der Gesellschafterausschuss. Und ich bin sehr zuversichtlich, dass wir da eine gute Lösung aus den Reihen der Familie finden.

Was würden Sie sich wünschen für das 200-jährige Jubiläum im Jahr 2049?

Wentzler: Ich würde mir wünschen, dass die Firma in der gleichen Stabilität existiert, wie sie das heute tut. Und dass die Familie, auch wenn sie deutlich gewachsen sein wird, weiterhin harmonisch und überzeugt hinter der Firma steht.