Weinheim

Schockierende Zustände in Weinheimer Notunterkunft: „Wir wollen hier raus“

In der Bergstraße 204 in Weinheim leben Ivonne Moog und Andreas Heinzelbecker unter harten Bedingungen. Kaputte Fensterscheiben, eingetretene Türen und heruntergerissene Tapeten prägen das Bild in der Notunterkunft. Trotz zahlreicher Hilferufe an das zuständige Bürger- und Ordnungsamt bleibt eine Verbesserung ihrer Situation aus. Doch was steckt hinter dieser traurigen Realität und wie reagiert die Stadtverwaltung auf die prekäre Lage?

Andreas Heinzelbecker (51) ist verzweifelt. Die Notunterkunft ist seit drei Jahren für ihn und seine Partnerin Ivonne Moog nicht mehr als ein Dach über dem Kopf. Foto: Iris Kleefoot
Andreas Heinzelbecker (51) ist verzweifelt. Die Notunterkunft ist seit drei Jahren für ihn und seine Partnerin Ivonne Moog nicht mehr als ein Dach über dem Kopf.

Kaputte Fensterscheiben, eingetretene Türen, heruntergerissene Tapeten. „So kann man doch niemanden leben lassen!“ Ivonne Moog (49) schlägt die Hände vors Gesicht und weint. „Ich weiß einfach nicht mehr weiter.“ Ihr Lebensgefährte Andreas Heinzelbecker (51) steht die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Er sagt: „Uns hilft einfach keiner.“

Newsletter

Holen Sie sich den WNOZ-Newsletter und verpassen Sie keine Nachrichten aus Ihrer Region und aller Welt.

Mit Ihrer Registrierung nehmen Sie die Datenschutzerklärung zur Kenntnis.

Seit drei Jahren wohnt das Paar in der Bergstraße 204 in der Notunterkunft, die ihrem Namen traurige Ehre macht. Das städtische Gebäude zwischen Weinheim und Sulzbach ist in einem Zustand, der schockiert: Kaum eines der Fenster in der Wohnung im Erdgeschoss ist noch in Schuss. Wo früher Glasscheiben den Blick nach draußen erlaubten, sind notdürftig Bretter in die Rahmen geklebt worden. Türen hängen aus den Angeln. Es zieht.

„Immer nur Stress und Angst“

Ivonne Moog und Andreas Heinzelbecker leben in einem Zimmer auf rund 25 Quadratmetern. Sie schläft auf einer zerschlissenen Matratze, er auf dem Sofa daneben. Ein Tisch, ein weißer Metallspind, ein Kühlschrank. Darauf eine kleine Kochplatte. Dort wird notdürftig gekocht. Eine Küche gibt es nicht. Das winzige Bad teilen sie sich mit ihren Mitbewohnern – einer Frau und einem Mann, der aber nur noch sporadisch kommt. „Er lebt wohl mittlerweile wieder auf der Straße“, glaubt Heinzelbecker. „Vielleicht fühlt er sich dort wohler“, mutmaßt er. Zurückgelassen hat der Mitbewohner allerhand Müll und Hundefutter, das den Boden bedeckt. Moog und Heinzelbecker dagegen versuchen, ihr kleines Reich in Ordnung zu halten – soweit das in der Enge möglich ist.

Im Nebenzimmer wohnt eine Frau, deren Lebensgefährte in der vergangenen Woche randaliert hat. Die Polizei musste anrücken. „Eigentlich hat er Hausverbot, weil es mit ihm immer wieder Streit gibt“, erklärt Heinzelbecker. Im Hinterhaus lebt seit ein paar Wochen eine Frau mit psychischen Problemen. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen. Das Zusammenleben ist schwierig. „Immer nur Stress und Angst“, sagt Ivonne Moog verzweifelt.

Ständig ruft sie beim Bürger- und Ordnungsamt der Stadt Weinheim an, das zuständig ist für die Unterbringung obdachloser Menschen. Bislang erfolglos. An der Wohnsituation ändert sich nichts. „Dabei wollen wir einfach nur aus diesem Loch raus“, sagt der 51-Jährige.

Was die Stadt Weinheim dazu sagt

Bei der Stadtverwaltung ist man sich des Problems bewusst. Pressesprecher Roland Kern: „Wir wissen, wie es da aussieht, da wollen wir nichts beschönigen.“ Er betont aber: „Die Stadt tritt keine Türen ein, das machen schon die Bewohner selbst.“ Und das nicht nur in der Bergstraße 204. Fotografieren darf unsere Redaktion in den Notunterkünften nicht. Aus Gründen der Privatsphäre der Bewohner, begründet die Stadt. Dieter Dumtzlaff, bei der Stadtverwaltung zuständig für die Unterbringung von Obdachlosen und Flüchtlingen, zeigt aber Fotos. Auch hier das gleiche Bild: Zur Zerstörung kommt der Dreck. „Mich ärgert so etwas“, sagt Dumtzlaff, „das müsste nicht sein.“ Er habe es täglich mit einer „schwierigen Klientel“ zu tun und ist einiges gewöhnt.

Nur zwei Hausmeister für 180 Wohnungen

Zwei Hausmeister hat die Stadt Weinheim, um die 180 Wohnungen in Schuss zu halten, die sie für Obdachlose und Flüchtlinge entweder selbst besitzt oder angemietet hat. Das reicht hinten und vorne nicht. „Wir kommen mit den Reparaturen einfach nicht hinterher“, so Markus Böhm, Leiter des Bürger- und Ordnungsamtes. Und Handwerker für aufwendigere Maßnahmen sind schwer zu bekommen. Böhm betont: „Das Nötigste wird gemacht. Mehr geht nicht.“

Die Stadt kämpft mit einer immer weiter steigenden Anzahl von Menschen, denen sie ein Dach über den Kopf geben muss. Mit aktuell 130 Obdachlosen sind das so viel wie nie zuvor. 2019 waren es noch halb so viele. Gründe sind vor allem die Folgen der Corona-Pandemie und die steigende Inflation. Dazu kommen immer mehr psychische Erkrankungen. Böhm schätzt, dass mittlerweile 70 bis 80 Prozent der Obdachlosen mit diesen Problemen zu kämpfen haben. „Jedes einzelne Schicksal ist traurig“, zeigt sich Kern empathisch. Er regt an: „Eigentlich müssten Menschen in dieser Situation mehr Betreuung erfahren.“

Zu den Obdachlosen kommen die Flüchtlinge

Zu den Obdachlosen kommen die Flüchtlinge, die ebenfalls untergebracht werden müssen. Aktuell sind das in Weinheim bereits 440. Laut Zuweisungsquote soll die Stadt in diesem Jahr zusätzliche 179 Flüchtlinge aufnehmen. Kern: „Das werden wir aber nicht schaffen, weil die Belegung in der Schweitzer-Schule und weiteren Containern erst nächstes Jahr möglich ist. Was wir dieses Jahr nicht erreichen, wird zur Quote 2024 dazugezählt. Wie hoch die sein wird, ist noch nicht bekannt.“

Keine Entspannung in Sicht

Eine Entspannung der Lage scheint nicht in Sicht. Der freie Wohnungsmarkt ist abgegrast oder die Mieten sind zu hoch. Das führt auch dazu, dass Notunterkünfte, die nicht für eine längere Wohndauer gedacht sind, oft über Jahre genutzt werden. Böhm: „Wir haben schlicht und ergreifend Kapazitätsprobleme.“ Und auf dem Wohnungsmarkt haben Menschen wie Ivonne Moog und Andreas Heinzelbecker kaum eine Chance.

„Zivilisatorisches Minimum“

Aber ist es tatsächlich „menschenwürdig“, so zu wohnen? Rein rechtlich schon. Hinweise und Empfehlungen zu einer „gelingenden Versorgung und Unterstützung in ordnungsrechtlicher Unterbringung“ liefert der Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg.

Darin enthalten: Ausführungen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes (VGH) Kassel (aus dem Jahr 1991) zu dem „zivilisatorischen Minimum“ einer „vorläufigen und befristeten Unterkunft einfachster Art“. Der VGH hat dieses „zivilisatorische Minimum“ beschrieben: „Ein hinreichend großer Raum, der genügend Schutz vor Witterungsverhältnissen bietet, wozu im Winter die ausreichende Beheizbarkeit gehört, hygienische Grundanforderungen wie genügende sanitäre Anlagen, also eine Waschmöglichkeit und ein WC, eine einfache Kochstelle und eine notdürftige Möblierung mit mindestens einem Bett und einem Schrank bzw. Kommode sowie elektrische Beleuchtung.“

Ein schwacher Trost

Das „zivilisatorische Minimum“ scheint in der Bergstraße 204 also eingehalten – ein schwacher Trost für Ivonne Moog und Andreas Heinzelbecker.