Birkenau

Ein Wagen voller Nostalgie

Spinnennetze winden sich an den geschnitzten Figuren. Die Jahre haben ihre Spuren hinterlassen, sie nehmen ihnen aber nichts von ihrem Glanz. Ein Blick in den alten Wagen weckt Erinnerungen. Von null auf Emotionen. Und für "Silbers Reitschule" soll sich schon bald wieder die erste Runde drehen.

Die handgeschnitzten Figuren haben trotz Staub und Spinnenweben nichts von ihrem damaligen Glanz eingebüßt. Foto: Simon Hofmann
Die handgeschnitzten Figuren haben trotz Staub und Spinnenweben nichts von ihrem damaligen Glanz eingebüßt.

Der Wert einer Schatzkiste richtet sich nach ihrem Inhalt. In Abenteuergeschichten jagen Piraten Gold und Juwelen nach. Aber für so manches Kind wäre eine Kiste voller Fahrchips für "Silbers Reitschule" der größte Schatz auf Erden. Ein paar Handvoll Fahrchips finden sich noch heute in Ober-Mumbach in der Scheune, neben der einst Adam Silbers Elternhaus stand. Aber nicht nur das, denn ein selbst gebauter Holzwagen birgt einen ebenso bedeutsamen Schatz von emotionalem Wert: das von Adam Silber nach seinen eigenen Vorstellungen und selbst gebaute Karussell, das jahrzehntelang Kerwe für Kerwe seine Runden gedreht und für viele Erinnerungen gesorgt hat. Seit 13 Jahren steht es still - doch das soll sich sehr bald ändern.

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Trotz Dornröschenschlaf immer noch gut in Schuss

Es regnet an diesem Julimorgen, was dem Karussell und den liebevoll geschnitzten Figuren aber nichts von ihrem Glanz nimmt, selbst nicht nach Jahren im Dornröschenschlaf. Seitdem es letztmals im Jahr 2007 seine Runden drehte, steht es in Einzelteile zerlegt und gut verstaut im Wagen. Ausgeräumt wurde er seitdem nicht. Jedes Teil, jede Figur hat ihren festen Platz, alles passt rein. Selbst der alte Lautsprecher und der Kassettenrekorder, die für karusselltypische Musik sorgten. Auch das Kassenhäuschen hat seinen Platz. "Hier drin ist alles passgenau angefertigt, denn nichts durfte auf den Fahrten zu den Kerwen verrutschen", sagt Johannes Silber, als er den Schlüssel im Schloss umdreht. Es braucht ein paar Minuten. Doch dann öffnen sich die Türen, als ob sie nie verschlossen waren.

Johannes Silber hat es sich fest vorgenommen, das Karussell seines Vaters, der im Jahr 2017 gestorben ist, wieder aufzubauen. Die Idee musste erst reifen, dann kam der Entschluss: Er hat ein Gewerbe für Eventmanagement angemeldet und möchte das Karussell nun eigenhändig restaurieren, für besondere Anlässe wieder zum Leben erwecken und den Menschen damit wieder Freude bereiten. Im Gegensatz zu seinem Vater möchte er aber nicht als Schausteller von Kerwe zu Kerwe ziehen. Es geht darum, den Zauber des Karussells wieder erlebbar zu machen. "Es ist ein handwerkliches Kunstwerk, es ist Tradition und vor allem auch ein Riesenstück Odenwald und Region. Ich muss und möchte das Karussell in Ehren halten." Jetzt nach Corona hofft er auf die Aufbruchstimmung, in der Handel und Gewerbe dieses beliebte Stück Tradition mieten möchten, sagt er, als er sich gegen die Mauer der alten Scheune lehnt, in der so viel angefangen hat.

Mit einem einzigen Blick zurück in die Vergangenheit: Seit 13 Jahren liegt das Karussell von Adam Silber gut verstaut im Dornröschenschlaf. Nun soll ihm wieder Leben eingehaucht werden. Foto: Simon Hofmann
Mit einem einzigen Blick zurück in die Vergangenheit: Seit 13 Jahren liegt das Karussell von Adam Silber gut verstaut im Dornröschenschlaf. Nun soll ihm wieder Leben eingehaucht werden.

1948 geht ein Kindheitstraum in Erfüllung

Am ersten Samstag im September 1948 drehte "Silbers Reitschule" ihre erste Runde auf ebendiesem Hof in Ober-Mumbach. Adam Silber ist damals 21 Jahre alt und erfüllt sich damit den Traum, den er bereits als kleiner Junge hatte. Als Kind stellte er sich vor, wie schön es doch wäre, wenn sich um den alten Baum im Garten hinter dem Haus ein Karussell drehen würde. Als 18-Jähriger entschließt sich der gelernte Schreiner nach einem Bummel auf der Birkenauer Kerwe dazu, selbst ein Karussell betreiben zu wollen - und es gleich zu bauen. Ein Dreivierteljahr lang bauen er und sein Vater jeden Tag an dem Karussell, stehen an Werkbank und Hobel und geben dem Traum jeden Tag ein bisschen mehr Gesicht. Das Elternhaus mit angrenzender Werkstatt gibt es heute nicht mehr. Aber das Karussell ist geblieben.

Johannes Silber hofft bis September dieses Jahres - 72 Jahre nach seiner Premiere - auf den "Wiederaufbruch", wie er sagt. Im Herbst soll das Karussell optimalerweise wieder aufgebaut in Ober-Mumbach stehen, jedoch wird es dann noch nicht wieder für die Öffentlichkeit zugänglich sein. "Das braucht seine Zeit, denn das Karussell muss nach jedem Aufbau und vor jeder ersten Runde geprüft werden", erklärt er. Doch bis dahin muss er jedes einzelne Teil in die Hände nehmen und begutachten. In den kommenden Wochen gräbt Johannes Silber also ganz tief in der Vergangenheit.

Beim Aufbau und der Dokumentation der Einzelteile kann er auf die Hilfe von Freunden und Weggefährten vertrauen, unter ihnen auch Lubo Lutz aus Bulgarien, der Adam Silber in seinen letzten Jahren als Schausteller beim Aufbau von Karussell und Schiffschaukel geholfen hatte. "Einen Bauplan gibt es nicht. Nur mein Vater wusste, welche Schraube an welche Stelle gehört", sagt er. Auch Bürgermeister Helmut Morr gehört zu Silbers Unterstützern. Er packt an diesem Morgen mit an, hilft beim Öffnen des Wagens und ist ebenfalls gefesselt vom Anblick, der sich zwischen Spinnweben und Regalböden bietet und an vergangene Jahre erinnert. "Wir müssen gucken, was uns erwartet", sagt Johannes Silber, als er in den Wagen steigt.

Für die einen ist es ein Fahrchip, für die anderen ein kleiner Schatz. Foto: Simon Hofmann
Für die einen ist es ein Fahrchip, für die anderen ein kleiner Schatz.

Zwischen Sommerregen, warmem Holz und Nostalgie

Mit einem großen Ruck zieht Johannes Silber die Plane, die das Dach des Karussells bildet, aus dem Wagen. Die Farben sind verblasst. "Die muss an manchen Stellen geflickt werden", sagt er mit Blick auf ein paar Risse. Mit zwei großen Schritten geht es rauf und schließlich rein in den Wagen. Staub liegt auf den Glühlampen der Verkleidungen, die einst die Kerwe für die Kinder noch ein bisschen heller leuchten ließen. Draußen riecht es nach Sommerregen, drinnen nach warmem Holz und etwas, das man wohl Nostalgie nennt. Zwischen den Regalen blickt man in die Augen von Pferden, Löwe oder Hahn - zu jeder Figur gibt es eine Geschichte. Jede von ihnen wurde nach genauen Vorstellungen von Adam Silbers Hand im Südtiroler Ahrntal geschnitzt. Jeder Pinselstrich wurde vom Birkenauer Maler Albert Schmitt von Hand gesetzt. Die Zügel und Steigbügel an den Figuren weisen Spuren von glücklichen Kindern auf. Dann sprudeln die Anekdoten und die vergangenen Jahre hervor. "Wenn zwischen den Liedern das Mikrofon kratzte, wusste man, dass eine Freifahrt folgt. Dann waren die Kinder nicht mehr zu bremsen und jubelten auf dem Karussell", erinnert sich Johannes Silber. "Das Tolle war, dass sich alle Familien 'beim Adam' trafen, ganz egal, ob sie viel oder wenig Geld hatten."

Und wie hat sich das Karussell auf ihn ausgewirkt? Verliert ein Karussell an Zauber, wenn man es von Kindesbeinen an kennt und mit ihm aufwächst? "Keineswegs", sagt er. "Ich bin sehr stolz darauf, was mein Vater geschaffen hat. Ich bin gerne dem Werk der Familie verpflichtet." Er selbst war als Jugendlicher immer zweimal im Jahr in das Schaustellerleben involviert. So half er beim Abbau auf dem Mannheimer Weihnachtsmarkt an Heiligabend und bei der Weinheimer Kerwe, wenn er für die Überschlagfahrten der Schiffschaukel zuständig war, die sein Vater schon 1949 von "Reitschul-Müller" übernommen hatte.

In den kommenden Wochen des Aufbaus lautet sein oberstes Gebot: Es soll alles originalgetreu aufgebaut werden. "Wenn es irgendwie geht, soll das Alte beibehalten werden", sagt er. "Und wenn es geht, jault dann auch wieder ein Kassettenrekorder", fügt er mit einem Lächeln hinzu, das verrät, dass dieses Karussell für ihn viel mehr ist als ein Fahrgeschäft. Ob sich Adam Silber über den Aufbau des Karussells gefreut hätte? Sein Sohn ist sich sicher: "Es wäre in seinem Sinne."