Foto: Marco Schilling
Soziales

Kita-System kollabiert: Eltern und Erzieherinnen am Limit

Fachkräfte fehlen auch an der Bergstraße und im Odenwald. Was sagen Politik und Verbände dazu? Wie soll es weitergehen?

Region. Warum gibt es immer weniger Erzieherinnen? Vor Kurzem ist unsere Zeitung dieser Frage nachgegangen und hat Kitapersonal aus der Region ausführlich zu Wort kommen lassen. Die anonymen Aussagen der Betroffenen zeugen von großer Erschöpfung. Von „Ich kann nicht mehr“ über „Heute hatte ich 25 Kinder für zehn Stunden allein“ bis zu „Selbst Praktikanten merkten bei manchen Kollegen und Trägern, wie ,schwarze Pädagogik’ betrieben und massive Aufsichtspflichtverletzungen begangen wurden“ machten sich die Fachkräfte Luft. Der Personalmangel in deutschen Kitas ist inzwischen so massiv, dass viele Erzieher und auch die Kitaleitungen warnen: Wir können nicht nur nicht mehr die Aufsichtspflicht erfüllen, wir können auch für das Wohl der uns anvertrauten Kinder nicht mehr garantieren. Wie kann das sein? Wer ist schuld an der Situation? Wir haben uns umgehört. Bei den Kitaleitungen, im Kulturministerium, beim Verband Bildung und Erziehung (VBE) Landesverband Baden-Württemberg und, bei der Bertelsmann Stiftung.

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Seit 2013 haben Kinder mit Vollendung des ersten Lebensjahres in Deutschland einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz. Seit Jahren werden die monetären Leistungen für Familien nachgebessert, immer mehr Eltern arbeiten Vollzeit, immer mehr Mütter gehen immer früher in den Beruf zurück und sind auf eine verlässliche Betreuung angewiesen.

„Die Situation erinnert tatsächlich an ein Glücksspiel“

Der vierjährige Tom weiß, wovon er spricht. „Wenn wir Glück haben, ist die Kita heute auf. Wenn wir Pech haben, dann gehe ich mit Mama ins Büro.“ Seine Mutter Anne hat wenig Zeit für ein Gespräch und schaut immer wieder auf ihr Handy. Hat sich die Kita gemeldet? Gibt es heute eine ‚Notgruppe’ oder sind – wie schon seit vielen Wochen – zu viele der Erzieherinnen krank, um eine Betreuung zu gewährleisten? „Die Situation erinnert tatsächlich an ein Glücksspiel“, stimmt sie ihrem Sohn zu. „Wir können uns auf nichts mehr verlassen und unser gesamtes Familiensystem bricht langsam zusammen.“

Dass viele Eltern ihre Kinder krank in die Kita brächten und so das Notfall-Karussell am Laufen halten, will die 42-Jährige so nicht stehen lassen. „Wir können uns nicht bei jedem Schnupfen freinehmen“, sagt die Marketingmanagerin, die noch eine achtjährige Tochter in der Grundschule hat. „Und unseren ganzen Urlaub können wir auch nicht dafür aufbringen, irgendwann müssen wir uns ja auch erholen.“ Die „Kinderkrank-Tage“ nehmen sie und ihr Mann nur selten in Anspruch – aus finanziellen Gründen. Was diese permanente Unsicherheit für Tom bedeutet, dass er morgens nicht weiß, wo er den Tag verbringen wird, wann er seine Freunde wiedersehen wird, das sei ein anderes und sehr emotionales Thema.

Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung prognostizierte bereits im August 2021 die jetzt eingetretene Situation. Es fehlen allein in Baden-Württemberg in den kommenden Jahren rund 40 000 Erzieherinnen und Erzieher. Und der „drohende“ Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz in Grundschulen (ab 2026) wird die Situation weiter verschärfen.

„Der Frust unter den Beschäftigten ist groß“

Droht unserem Bildungs- und Betreuungssystem der Kollaps? „Nein“, ist Kathrin Bock-Famulla, Senior Expert Frühkindliche Bildung der Bertelsmann Stiftung, überzeugt. „Er droht nicht. Das System ist bereits jetzt dabei zu kollabieren.“ Was hat die Politik hier versäumt? Wer ist schuld? „Die Politik hätte Arbeitsmarktprognosen erstellen lassen müssen, bevor man die Rechtsansprüche auf den Weg gebracht hat“, so Bock-Famulla. „Es war ja gewollt, dass mehr Eltern ihre Kinder in der Kita betreuen lassen. Die Leistungen für Familien sind auch ganz bewusst so aufgebaut, dass beide Eltern nach einem Jahr wieder zurück in die Berufstätigkeit gehen.“ Man hätte sich also nur mit den Daten und Fakten zu diesem Themenbereich beschäftigen müssen.

Aber weder Politik noch Verwaltung haben sich nicht auf den Weg gemacht, systematisch abzuschätzen, welche Auswirkungen vor allem der Rechtsanspruch unter drei Jahren auf den Platzbedarf und auch den Personalbedarf haben könnte. „Kurzfristig müssen wir uns jetzt alle an einen Tisch setzen. Träger, Kommunen, Erzieher, Eltern und Notfallpläne erstellen.“ Sie ist überzeugt: „Viele Eltern werden sich auf kürzere Betreuungszeiten einstellen müssen – und auf Kitas, die schließen werden. Das ist natürlich nicht nur für die Familien dramatisch, sondern auch gesamtgesellschaftlich gesehen eine Katastrophe“, so die Expertin der Bertelsmann-Stiftung.

Diesen Prognosen kann Claudia Meyer-Grünig, Kitaleiterin der Einrichtung „Glückszauber“ in Wald-Michelbach nur zustimmen. „Der Frust unter den Beschäftigten ist groß! So kann das nicht weitergehen. Das Thema muss endlich in der Öffentlichkeit ankommen und die Politik muss endlich der Realität ins Auge schauen“. Anerkennen, wie anstrengend und wichtig für die Gesellschaft die Arbeit sei. „Das kann sich doch von außen keiner vorstellen.“ Deshalb sei es „kein Wunder“, dass Fachkräfte überproportional krank seien – oder den Beruf wechselten. „Die, die noch da sind, müssen wir unbedingt schützen und halten“, betont die erfahrene Kita-Leiterin. Mit mehr Vorbereitungszeit, Fortbildungen und natürlich mit mehr Unterstützung in den Gruppen. „Von außen sieht unsere Arbeit so einfach aus“, so Meyer-Grünig, „aber die permanente Aufmerksamkeit, die wir den Kindern geben, die Sensibilität für jedes Kind, das erschöpft immens. Und dabei sind wie hier in unserer Wohlfühl-Kita noch gut aufgestellt!“

Alle an einen Tisch holen

Und jetzt? Wie kann es jetzt weitergehen. „Wir müssen alle an einen Tisch holen, den Landrat, den Bürgermeister, die Eltern und die Kitaleitung“, überlegt die erfahrene Pädagogin. „Wir müssen gegenseitiges Verständnis erzeugen. Es geht um Finanzierbarkeit auf der einen und um gute Pädagogik auf der anderen Seite. Wir brauchen neue Ideen für pädagogische Konzepte, und wir müssen den Beruf attraktiv gestalten – nicht schönreden.“

Dem stimmt auch Kathrin Bock-Famulla zu. „Wenn nicht schnell gehandelt wird, wird eine Generation von Kindern in die Schule kommen, die emotional nicht stabil ist und bildungspädagogisch nicht auf die Schule vorbereitet werden konnte. Falls diese Lücken später überhaupt noch geschlossen werden können, wird das für die Gesellschaft aufwändig und teuer.“

„Überrascht hat es uns nicht“

Im Interview spricht Kultusstaatssekretär Volker Schebesta über einen neuen Lehrgang „Direkteinstieg Kita“ für Erzieher in der Helen-Keller-Schule in Weinheim - ein Pilotprojekt in Baden-Württemberg.

Warum gibt es einen so eklatanten Mangel an Fachkräften in Kitas?

In den vergangenen Jahren hat sich die Anfrage nach Betreuungsplätzen bundesweit massiv verstärkt. Dieser große Bedarf trifft auf einen Fachkräftemangel, der nicht nur in der frühkindlichen Bildung, sondern in vielen Branchen herrscht.

Den tatsächlichen Bedarf an Betreuungsplätzen hätte man ausrechnen können.

Die Geburtenrate hat sich erhöht gegenüber langfristigen Prognosen, Kinder aus einer höheren Zahl von zugewanderten Familien sind dazu gekommen – und mit den Kindern aus der Ukraine konnte auch niemand rechnen.

Hat Sie der Fachkräftemangel in den Kitas überrascht? Hat die Politik hier geschlafen?

Überrascht hat es uns nicht! Die Politik und auch die Träger der Kitas haben tatsächlich auch dafür gesorgt, dass die Zahl des pädagogischen Personals erheblich zugenommen hat. Zwischen 2007 und 2021 konnten wir eine Steigerung von 46.000 auf 99.000 Kräfte verzeichnen. Auch die Zahl der Ausbildungen hat sich fast verdoppelt. Wir haben uns also schon sehr bemüht. Aber: Trotz allem müssen wir noch mehr Personal gewinnen. Ganz konkret haben wir am 1. Februar in Weinheim das Pilotprojekt „Direkteinstieg Kita“ gestartet: Zu Beginn des Schulhalbjahres haben an der Helen-Keller-Schule 22 Schülerinnen und Schüler, die alle aus fachfremden Berufen kommen und in die Erziehung wechseln möchten, ihr Qualifizierungsjahr für die Sozialpädagogische Assistenz begonnen. Zum Herbst hin werden andere Berufsschulen in Baden-Württemberg nachziehen.

Wie bereiten Sie sich auf den Rechtsanspruch für Grundschulkinder vor, der 2026 in Kraft treten wird?

Tatsächlich haben wir aus baden-württembergischer Sicht Bedenken beim Bund angemeldet, was die Durchführbarkeit des Anspruches betrifft. Wir wussten ja schon vor Jahren, wie angespannt die Situation ist und dass sie noch angespannter werden wird, wenn die starken Jahrgänge in Rente gehen. Auf Bundesebene wurde es trotzdem so beschlossen.

Im Januar ist auf Ihre Initiative hin die Kampagne „Mehr bekommst du nirgendwo“ in ganz Baden-Württemberg gestartet. Warum jetzt? War es so geplant oder waren jetzt die Plakate fertig?

Uns erschien der Zeitpunkt gut. Die Corona-Einschränkungen sind weitgehend aufgehoben, Angebote der Berufsorientierung und Praktika können wieder stattfinden. Initiiert wurde die Kampagne aus dem „Pakt für gute Bildung“ heraus. Unsere Motivation hinter der Kampagne ist zweigleisig. Zum einen wollen wir die Freude an der Arbeit mit Kindern in die Öffentlichkeit transportieren, zum anderen Schluss machen mit falschen Vorstellungen, was in diesem Berufsfeld bezahlt wird. Deshalb drucken wir auch die Bruttogehälter ab, die nach fünf Arbeitsjahren üblich sind. Es ist also auch eine Aufklärungskampagne. Vonseiten der Politik kann ich nur sagen: Wir wissen, wie schwierig es zurzeit für die Erzieherinnen und Erzieher ist, allem gerecht zu werden. Man sollte aber auch nicht vergessen, wie viel Freude und Erfüllung mit dem Beruf verbunden sind.

Können beide Eltern unter den aktuellen Voraussetzungen weiterhin und in Zukunft so berufstätig sein, wie es die Gesellschaft wünscht und wie es auch oftmals nötig ist?

Wir müssen alles dafür tun, dass ausreichend Plätze und eine hochwertige Kinderbetreuung angeboten werden!

Planen Sie, Eltern, die zu Hause betreuen, finanziell stärker zu unterstützen?

Es soll kein Druck ausgeübt werden, dass Familien ihre Kinder unter drei Jahren in eine Betreuung geben müssen. Finanziell wollen wir hier aber auch keine Fehlanreize setzen. Denn bei allem dürfen wir nicht vergessen: Der Besuch einer Kita ist ein wichtiger Baustein der frühkindlichen Bildung, nicht nur, was das soziale Verhalten betrifft. Eine gute Kita bereitet auf die Schule vor, unterstützt bei der Sprachförderung und vieles mehr. Wir haben hier zu Recht hohe Ansprüche.

„Der Rechtsanspruch kann nicht gewährleistet werden“

Im Interview verraten Walter Beyer und Susanne Sargk vom Verband Bildung und Erziehung Baden-Württemberg, warum das Thema eigentlich Chefsache im Kanzleramt sein müsste.

Warum gibt es in Deutschland einen so eklatanten Mangel an Fachkräften in Kitas?

Walter Beyer: Spätestens mit dem Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für Kinder unter drei Jahren hat sich seit dem Jahr 2013 die Nachfrage nach Kitaplätzen drastisch erhöht und ist bis heute ungebrochen. Auch die Pandemie, die Flüchtlingswelle oder der Krieg in der Ukraine verschärften den Bedarf an pädagogischen Fachkräften.

Werden die Erzieher im Stich gelassen?

Susanne Sargk: Diesen Eindruck könnte man durchaus haben, wenn man sich zum Beispiel die vom VBE veröffentlichte Studie des DKLK (DKLK-Studie 2022: Herausforderungen im Kitabereich immer größer) anschaut. Es braucht politische Ehrlichkeit, und die lautet, dass der Rechtsanspruch derzeit nicht vollumfänglich gewährleistet werden kann. Punkt! Kitaträger und Kultusministerium müssen sich schützend vor unsere Erzieherinnen und Erzieher stellen. Zusätzliche Entlastungstage, die Kürzung von Öffnungszeiten oder krankheitsbedingte Kitaschließungen sind nicht von Kitaleitungen zu verantworten. Diese Maßnahmen sind der Fachkräftenot geschuldet.

Was müsste sofort umgesetzt werden, um die Situation zu verbessern und was langfristig?

Susanne Sargk: Eigentlich ist die Arbeit als Erzieherin und Erzieher der schönste Beruf, den es gibt. Es braucht mutige Investitionen und eine große Fachkräfteoffensive, um langfristig genügend Personal zu gewinnen.
Der VBE fordert, dass Freiwillige Pädagogische Jahr (Freiwilliges Soziales Jahr an Schulen) auch auf Kindertageseinrichtungen auszuweiten. Vielleicht braucht es zukünftig in Deutschland ein „verpflichtendes Soziales/Pädagogisches Jahr“. Wie sonst soll der steigende Betreuungsbedarf an Kitas und Schulen und der Pflegebedarf in Krankenhäusern und Pflegeheimen abgedeckt werden? Wir denken an ein unbürokratisches Alltagshelferbudget, an den Einsatz von Verwaltungs- und Hauswirtschaftskräften, den Einsatz von multiprofessionellen Teams - also an Ergotherapeuten, Logopäden, Sozialpädagogen, Heilpädagogen.

Offizielle Entscheidungsträger schieben sich die Schuld gegenseitig zu. Von den Trägern über die Länder und Kommunen bis zum Bund. Was läuft hier falsch?

Walter Beyer: Das Land hat über einen langen Zeitraum die Finanzausgleichsmittel für die Kommunen gedeckelt. Dementsprechend ist der Kita-Ausbau nicht wirklich vorangegangen und hat Kommunen und Kita-Trägern keine auskömmliche Finanzierung gewährt. Jeder Kindertageseinrichtung wurde zum „Drauflege-Geschäft“ für die Kommunen und damit auch für die freien Träger.

Müsste der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz (vor dem so viele Erzieher und Erzieherinnen Respekt haben) zurückgenommen werden?

Susanne Sargk: Nein, auf gar keinen Fall! Kein Land der Welt kann es sich leisten, eine gut ausgebildete Frauengeneration zu Hause zu lassen. Das wäre frauen- und familienpolitisch ein Rückschritt in eine Zeit als Mama noch zu Hause war und keiner Berufstätigkeit nachging oder die Kinder von den Großeltern betreut wurden. Eine gute Kinderbetreuung ist für die ganze Republik ein wichtiger Standortfaktor und müsste Chefsache im Kanzleramt und in den Staatskanzleien der Länder sein.

In zwei Jahren kommt der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in den Schulen. Wie soll das unter diesen Voraussetzungen funktionieren?

Walter Beyer: Vor dem Hintergrund des akuten Personalmangels und den immer dringenderen Hilferufen seitens der Kommunen sehen wir nicht, wie der Rechtsanspruch beginnend ab 2026 noch einzulösen ist. Man sollte in diesem Zusammenhang nicht die gleichen Fehler machen, wie es beim Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz der Fall war.